Maria Brendles Kurzfilm Ala Kachuu: Take and Run behandelt den traditionellen Brauch des Brautraubes in Teilen Kirgisistans, der dort Ala-Kachuu (auf Deutsch: Nimm und Renne) genannt wird. Der Oscar-nominierte Kurzfilm überzeugt nicht nur durch seinen inhaltlichen Fokus, sondern auch durch eindrucksvolle Aufnahmen der weiten kirgisischen Landschaft. Im Gespräch berichtet Regisseurin und Drehbuchautorin Maria Brendle von ihrer Recherche und den Dreharbeiten vor Ort und erklärt, warum ihr dieses Filmprojekt besonders am Herzen liegt.
Ala-Kachuu: Idee fürs Drehbuch
Auf das Thema des Brautraubes in Kirgisistan stieß Maria Brendle eher zufällig durch die Reiseberichte eines Freundes, der ihr von der bis heute in Teilen Kirgisistans praktizierten Tradition erzählte. Sie war überrascht und entsetzt über ihr eigenes Unwissen über das Land und die kirgisische Kultur.
Die Praxis des Brautraubes, genannt Ala Kachuu, ist in Kirgisistan gesetzlich verboten und strafbar. Dennoch berichten die Vereinten Nationen, dass dieser traditionelle Brauch in Teilen des Landes bis heute vorkommt. Verlässliche Zahlen sind nur spärlich verfügbar, doch schätzt UN Women in einem Artikel von Anfang 2025, dass mehr als 20 Prozent aller Hochzeiten in Kirgisistan auf einem Brautraub beruhen. Diese Zahlen unterstreichen die Dringlichkeit des Themas und zeigen, warum das Filmprojekt für Brendle so wichtig ist.
Gleichzeitig bewegten Brendle die vielen Schicksale von Mädchen und Frauen weltweit, die von Gewalt und Missbrauch geprägt sind. Sie erzählt, dass sie sich immer gefragt habe, wie sie mit ihren Mitteln mehr Bewusstsein für die Rechte von Mädchen und Frauen weltweit schaffen könne. Um dieses Ziel zu erreichen, fasste die Drehbuchautorin und Regisseurin den Entschluss, einen Film über den Brauch des Brautraubes in Kirgisistan zu drehen: „In der Hoffnung, jemand sieht dann diesen Film und geht den nächsten Schritt, jemand mit vielleicht mehr Einfluss als ich oder mit einer noch lauteren Stimme. Also ich habe immer gedacht, jemand muss den Stein ins Rollen bringen, in der Hoffnung, dass sich dann etwas tut.“
Recherchereise und Filmdreh in Kirgisistan
Im Jahr 2018 reist Brendle erstmals nach Kirgisistan, um für das Drehbuch zu recherchieren. Ihre Recherche basierte vor allem auf Gesprächen mit Kirgis:innen, die in der Schweiz, Deutschland oder Kirgisistan leben und ihr von ihren Erfahrungen berichteten. Besonders zentral war dabei das Frauenhaus in Bischkek, das als Anlaufstelle für Betroffene dient. Darüber hinaus lernte Brendle die kirgisische Kultur bei der Teilnahme an Hochzeiten vor Ort näher kennen. Daher beruhe das Drehbuch „auf wahren Momenten und wahren Geschichten, die im Prinzip zu einer zusammengefasst wurden“. Gleichzeitig verweist Brendle darauf, dass ihr Filmprojekt lediglich einen Teil der Erfahrungen und Lebensrealitäten von Frauen widerspiegle.
Der Filmdreh in Kirgisistan im darauffolgenden Jahr war für Brendle eine einmalige Erfahrung, denn dieser habe sich stark von den monatelang im Voraus durchgetakteten Drehs in der Schweiz unterschieden. Beeindruckt habe sie dabei besonders den Pragmatismus und die Flexibilität des kirgisischen Filmteams. So sei beispielsweise die Bäckerei während des Drehtages wie üblich geöffnet gewesen und nur kurz für die Takes abgesperrt worden, erinnert sich Brendle. Schmunzelnd denkt Brendle daran zurück, wie sie während des Drehs sogar „nebenher auch mal ein Brot verkauft habe“.
Am Set hätten sich die Kulturen auf natürliche Weise vermischt und das Filmprojekt dadurch zu etwas Besonderem gemacht, erzählt Brendle. Für die gute Zusammenarbeit mit dem kirgisischen Serviceproduktionsteam und den Schauspieler:innen sei sie unglaublich dankbar. Denn gemeinsam hätten sie sprachliche und kulturelle Herausforderungen gemeistert. So hat Brendle dann auch besonders berührt, «zu sehen, dass all die Kulturen zusammenkommen, um über so ein übergreifendes Thema zu berichten, [und auf] die Stellung der Frau, unabhängig von den Ländern» aufmerksam zu machen.
Für Brendle war es zentral, interkulturelle Missverständnisse zu vermeiden und der kirgisischen Kultur zu jedem Zeitpunkt mit Respekt zu begegnen. Deshalb ließ sie sich die wichtigsten Umgangsformen erklären und beibringen, und setzte diese konsequent um. So lernte sie beispielsweise, die Hierarchie der Älteren – eine zentrale Umgangsform im kirgisischen Alltag – zu respektieren. Daraus habe sich dann auch ein besonderes Band zwischen ihr und einer älteren Schauspielerin am Set entwickelt, welches ein gegenseitiges Verständnis ohne Worte ermöglichte.
Maria Brendle berichtet, dass das Filmset als geschützter Raum wahrgenommen worden sei. Denn hinter der Kamera habe die Schwere des Themas bei manchen Teammitgliedern starke Gefühle ausgelöst, oft im Zusammenhang mit eigenen Erfahrungen mit dem Brauch des Brautraubes.
Während des gesamten Prozesses hatte Brendle „sehr viel Respekt davor, dass ich als Europäerin diese Geschichte erzähle“. Gleichzeitig betont sie, dass sie diese Geschichte „in erster Linie (…) als Frau [erzähle], und als Frauen haben wir keine Grenzen und Landesgrenzen, sondern wir teilen unsere Emotionen, Ängste und Erfahrungen miteinander, egal wo wir herkommen.“
Internationale Aufmerksamkeit
Im Jahr 2020 erschien dann der knapp vierzig-minütige Film Ala Kachuu: Take and Run. Doch schon kurz darauf folgte die Ernüchterung: Das weltweit grassierende Coronavirus erschwerte es massiv, das Ziel von Brendle und ihrem Team – ein möglichst großes Kinopublikum weltweit anzusprechen – zu erreichen.
Trotz der unerwarteten Umstände gewann der Film zahlreiche Preise. Im Jahr 2022 folgte schließlich die größte Überraschung: Ala Kachuu: Take and Run wurde für die Oscars nominiert, erreichte dadurch ein globales Publikum und erhielt viel Aufmerksamkeit. Für Brendle war es ein bewegender Moment, dass sie und ihr Team „das Ziel, [über dieses Thema] zu sprechen, so groß und global erreicht haben“. Ein weiteres Highlight war für sie, dass die Hauptdarstellerin Alina Turdumamatowa nach langem Bangen kurzfristig doch noch in die USA einreisen konnte und so gemeinsam mit Brendle bei der Oscarpremiere auf dem roten Teppich dabei war.
Rückblickend meint Brendle, dass sie während des gesamten Prozesses mit deutlich mehr Widerstand gerechnet habe. Tatsächlich sei sie aber „immer auf eine wahnsinnige Offenheit gestoßen“. Auch nach der Veröffentlichung habe sie zahlreiche positive Rückmeldungen erhalten, besonders von kirgisischen Frauen, die ihr für den Film dankten.
Die Regisseurin hinter Ala Kachuu: Take and Run
Maria Brendle zog für ihr Bachelorstudium aus Deutschland in die Schweiz, wo sie bis heute lebt und arbeitet. Sie absolvierte einen Bachelor in Film an der Zürcher Hochschule der Künste und schloss anschließend einen Master in kognitiver Neurowissenschaften an der Academy of Neuroscience in Köln ab. Ihr erster Kurzfilm nach Abschluss des Studiums, Ala Kachuu: Take and Run, wurde mehrfach ausgezeichnet und 2022 sogar für die Oscars nominiert. Brendles erster Langspielfilm, Frieda’s Fall, kam im Oktober 2024 in die Kinos.
Mit Ala Kachuu: Take and Run wollte Maria Brendle ein größeres Bewusstsein für den Brauch des Brautraubes in Kirgisistan schaffen und „auf das Schicksal der betroffenen Frauen aufmerksam machen.“ Denn sie ist überzeugt, „wenn man nicht weiß, dass es Sachen gibt, kann man [sie] nicht ändern“.