Die einen blicken stolz auf die futuristischen Prachtbauten, die anderen sehen darin eine seelenlose Fassade. Seit 15 Jahren ist Astana die neue Hauptstadt Kasachstans und spaltet immer noch das Volk.

In aller Ruhe nippt Oleg an seinem Instant-Kaffee. Um sieben Uhr morgens herrscht in der Ankunftshalle des Bahnhofs in Astana bereits reges Treiben. Ein paar Schlucke später schließt auch er sich der Menge an und fährt vom alten Bahnhofsgebäude in Richtung der Glasbauten am anderen Flussufer. Als Unternehmer ist er einer von vielen Kasachstanern, die geschäftlich regelmäßig mit dem Schnellzug in die Hauptstadt pendeln, das Rückfahrticket immer in der Tasche. „Mir gefällt Astana nicht, auch wenn alles neu gebaut ist.“ Zu kalt im Winter, zu warm im Sommer ist es ihm hier. Und mit dieser Haltung ist Oleg nicht allein. „Ich verstehe gut, dass Leute, die hier herkommen, unter dem Wetter leiden. Der permanente Wind verschlimmert alles noch“, sagt auch Xenia Sutula. Die 24-Jährige lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Astana und arbeitet als freiberufliche Journalistin. Aufgewachsen ist sie am ehemaligen Stadtrand – dort, wo heute das neue Zentrum wächst. Auf den Feldern von damals stehen heute verglaste Hochhäuser. Wo Xenia als Kind die landwirtschaftlichen Flugzeuge über die Äcker und Wiesen kreisen sah, ragt jetzt das Wahrzeichen Astanas, der Baiterek-Turm in den Himmel. „Heute kann ich von zuhause die Residenz des Präsidenten innerhalb von 15 Minuten mit dem Fahrrad erreichen.“

Neue Stadt auf historischem Boden

15 Jahre zuvor war das Zentrum Kasachstans noch Almaty. Die Stadt am Fuß des mächtigen Tienshan Gebirges verteidigte Jahrzehnte lang ihre Platzierung als politischer und kultureller Mittelpunkt im geografischen Süden des Landes, bis Präsident Nursultan Nasarbajew Ende der 1990er Jahre seinen Masterplan für die neue Hauptstadt Astana präsentierte. Diese soll den vorwiegend russischen Norden mit dem kasachisch geprägten Süden verbinden. An einem historischen Ort, am Ufer des Flusses Ischim, wo zu dieser Zeit keine 200.000 Menschen wohnen, lässt er in einem Mammutprojekt eine Retortenstadt ohne Gleichen erbauen. Erdbebensicherheit, Freiraum sowie halb so hohe Baukosten wie in Almaty – diese drei Hauptgründe nennt Nasarbajew in seiner Festrede anlässlich der Hauptstadt-Übergabe 1998. „Immer wenn es um die Geburt unserer Nation ging, führte uns die Geschichte an diesen Ort zurück, wo unzählige Khan-Reiche aufblühten und wieder verfielen“, so der Präsident. Damals wie heute versteht nicht jeder Kasachstaner diese Rückkehr in die Steppe. Gerüchte über die tatsächlichen Gründe des Präsidenten schließen eine potentielle Bedrohung durch Attentate mit ein. Auch die Nähe zum instabilen Kirgisistan und den übermächtigen Chinesen könnte den Präsidenten in die Steppe gezogen haben.

Hauptstadt | Bild: Daniela Neubacher

Für manche Astanaer bedeutet die Aufwertung ihrer Stadt auch persönliche Opfer. Datschen und Wohnhäuser müssen den Beamtenbüros weichen. Und der einst mühsam fruchtbar gemachte Boden wird Stück für Stück für die Fundamente der Stahlriesen ausgehoben. „Mein Vater war Landwirt und hat damals sehr geklagt. Denn in der Sowjetzeit haben sich die Bauern und Anrainer stark bemüht, um aus der Steppe einen günstigen Boden für den Gemüseanbau zu machen – das war praktisch umsonst“, erinnert sich die junge Astanaerin Xenia. In seiner Festrede anlässlich der Hauptstadt-Übergabe 1998 stellt Nasarbajew dennoch klar: „Trotz anders lautender Unterstellungen war ein großer Teil der Bevölkerung mit dieser Entscheidung einverstanden.“

Spielwiese für Architekten

„Wenn die Hauptstadt weiter in Almaty geblieben wäre, hätten wir uns nie weiterentwickelt“, lautet wiederum die Meinung von Gauchar. „Für die Menschen ist Astana ein Symbol für die Entwicklung unseres Landes, auf die sie stolz sind.“ Seit jeher ist der Süden Kasachstans kulturell und wirtschaftlich weiter als der Norden. Um dies auszugleichen, investiert Nasarbajew viele Milliarden aus dem florierenden Ölgeschäft und holt Profi-Architekten ins Land: Der Japaner Kisho Kurokawa entwirft die Stadt auf dem Reißbrett. Stararchitekt Norman Foster hinterlässt seine Spuren in der Skyline der Stadt in Form von ambitionierten Gebäuden wie einer Glaspyramide, einem zeltförmigen Einkaufszentrum und dem Wahrzeichen Baiterek. „Die Architekten dürfen experimentieren und spielen. Das macht Astanas Stadtbild so einzigartig“, sagt Alima Bissenowa, Anthropologin an der Nasarbajew-Universität in Astana. Die 38-Jährige ist selbst im damaligen Zelinograd aufgewachsen und beschäftigt sich intensiv mit dem Masterplan der Stadt. Man könne schwierig unterscheiden, was nun die nationale Architektur und was der globale Einfluss sei. „Es ist wohl etwas dazwischen.“

<<Wer Ambitionen hat, kommt nach Astana.» Xenija Sutula, Journalistin in Astana

Obwohl sie die neue Hauptstadt wichtig findet, betrachtet Gauchar das Stadtbild sehr kritisch: „Mir gefällt der gesamte architektonische Eindruck nicht, denn Architektur sollte mehr davon ausgehen, wie man sich an verschiedenen Plätzen in der Stadt, auf den Straßen und Plätzen fühlt.“ Als angehende Architektin ist sie enttäuscht: „Man hatte die Chance, eine komplett neue Stadt zu bauen, und hat sie nicht genutzt. Im Moment ist Astana monumental, es ist wie ein Statement“.

„Für die Menschen ist Astana ein Symbol für die Entwicklung des Landes“, sagt die junge Kasachstanerin Gauchar. | Bild: Daniela NeubacherZwischen 2000 und 2007 wurden die alten, grauen Gebäude der Sowjetzeit renoviert und mit den bunten, glänzenden Glasmodulen bedeckt. „Ich treffe mich regelmäßig mit Freunden in einem der gemütlichen neuen Kaffeehäuser in den Einkaufszentren“, erzählt die Astanaerin Xenia. Nach der anfänglichen Euphorie über die Veränderungen überwiegt mittlerweile dennoch die Enttäuschung: „Früher erlebten wir einen Wow-Effekt nach dem anderen. Jetzt haben wir diese Gebäude satt. Es scheint so, als hätten sie keine Seele.“
Auch Gauchar stimmt hier zu: „Ich möchte keinesfalls, dass Astana eine riesige, seelenlose Wolkenkratzerstadt wird wie Dubai, wo es nur darum geht, anzugeben. Vor allem die Expo 2017 bietet nun die große Chance, das Stadtbild bis dahin zu verbessern, sie fußgängerfreundlicher und lebendiger zu gestalten.“

Kurz vor zehn Uhr abends trifft der Unternehmer Oleg wieder am Bahnhof von Astana ein. Noch einmal bestellt er Kaffee, kauft sich einen Imbiss für unterwegs und verlässt dann wie viele seiner Kollegen mit dem Nachtzug die Stadt. Während für sie jede Reise in Almaty endet, strömen zahlreiche Gastarbeiter, Fachkräfte und Studenten aus dem In- und Ausland Richtung Astana. Von den 17,7 Millionen Einwohnern im gesamten Land zählte das Statistikamt Kasachstans 778.000 Menschen in Astana. Fünfzehn Jahre zuvor waren es noch 300.500. Knapp 70 Prozent aller Bewohner befinden sich im arbeitsfähigen Alter, das Durchschnittsalter beträgt 30 Jahre. Sie alle trotzen den klimatischen Widrigkeiten der Steppenstadt durch die neuen Perspektiven, die Astana verspricht. Junge Leute wie Xenia wissen: „Wer Ambitionen hat, kommt nach Astana. Die Stadt ist offen und wartet auf sie.“ Das stimmt auch die Anthropologin Bissenowa nachdenklich. „Manchmal denke ich, dass der Masterplan etwas zu aggressiv ist.“ Ambition sei eben nicht alles, besonders in einer Zeit, „in der politischer Wille allein nicht ausreicht, um so ein Projekt auch umzusetzen“, sagt Bissenova. Mittlerweile gebe es das Bemühen, die Grenzen der Stadt abzuschätzen „und das Wachstum künftig zu kontrollieren“, sagt Bissenova. „Für mich ist wichtig, dass wir endlich Frieden mit der Steppe um uns herum schließen.“

Von Daniela Neubacher

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