Während die türkische Regierung vehement den EU-Beitritt fordert, ist in der türkischen Gesellschaft die Debatte um den EU-Beitritt entbrannt. Gegner und Befürworter einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union kämpfen auch mit den Vorurteilen in den Köpfen.

Kumkapi ist ein Stadtteil in Istanbul. Hier erscheint einem ein ganz anderes Bild der Türkei als man es erwartet. Statt Minaretten recken sich Kirchtürme in die Höhe, Glockenläuten ruft zum Gebet. Es ist ein armenischer und griechisch-orthodox-christlicher Stadtteil und zugleich Sitz des armenischen Patriarchats von Konstantinopel. Auffällig jedoch sind die Mauern, Stahltüren und der Stacheldraht um die Kirchen herum. Dem Betrachter stellt sich die Frage: Warum diese Mauer um die Kirche? Dient sie lediglich als Schutz vor rechtsextremen Ultranationalisten oder verbirgt sich vielleicht mehr dahinter? Wer wird vor wem beschützt? Ist es die christliche Gemeinde vor den mehrheitlichen Nicht-Christen des Landes oder schützen sich die Muslime dabei vor der „europäischen Fremde“ im Innern der Kirche?
Dies ist geradezu symbolisch für die vielzitierte Mauer in unseren Köpfen, über die wir nicht hinwegschauen können oder es nicht wagen, hinwegzusehen, um Europa in all seinen Facetten wahrnehmen zu können. Lange Zeit herrschte bei den europäischen Mächten im 19. Jahrhundert ein Wettstreit um die „orientalische Frage“, bei der es um die Aufteilung und folglich um die Aufhebung des Osmanischen Reiches ging. Durch den neu entstandenen Nationalstaat der Republik Türkei 1923, welcher keinen imperialen Träumen mehr nachhing, löste sich dieser Streit von selbst. Ein neues Problem ist seit den 60er Jahren aufgetaucht: die „türkische Frage“! Außer Frage steht, dass die Türkei zu Europa gehört, ob sie nun aber ein integrativer Bestandteil des EU-Europas sei, darüber wurde lange debattiert, wie zuletzt am vergangenen Wochenende in Luxemburg. Offensichtlich scheint es also nicht nur eine „türkische“ sondern auch eine „europäische Frage, die Länder der EU betreffend“ zu geben. Und dies wird offenbar von beiden Seiten, zum einen von der EU, zum anderen von der Türkei, so gesehen. Während die EU auf der Suche nach europäischer Identität ist, steht die Türkei vor einer fremden Tür mit dem Ziel, in zehn bis 15 Jahren endlich eintreten zu können. Was aber versteckt sich hinter dieser Tür? Wie wird sich die Türkei durch die Beitrittsverhandlungen ändern, wovor so mancher Angst hat? Die kulturellen Mauern in den Köpfen mancher EU-Mitglieder wie z.B. Österreich, das scheinbar den Eindruck nicht los wird, die Türken stünden erneut vor den Toren von Wien, und die der Türkei, dass die EU ein „Christen-Club“ sei, sorgen dafür, dass die Furcht vor dem Fremden und damit bestehende Klischees auf ewig konserviert werden. Zu hoch ist die Mauer noch immer, um über sie hinwegsehen zu können, und um zu verstehen, was sich dahinter verbirgt.

Kumkapi ist ein Stadtteil, in dem man zusammen lebt, aber sich nicht wirklich gegenseitig kennt, wie zum Teil in Europa auch. Und vielleicht sollte man genau hier anfangen, die „Mauer“ abzutragen, um sich gegenseitig kennen zu lernen. Die Türkei wird sich in der Zeit der Beitrittsverhandlungen politisch sicherlich noch sehr verändern, jedoch nicht kulturell. Im Gegenteil, sie und die EU werden dadurch lernen, dass die Türkei schon längst Teil europäischer Kultur geworden ist. Und genau diese Erkenntnis wird beide Seiten näher zueinander bringen und eine europäische Identität erst richtig festigen.

14/10/05

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