„Lebenslanges Lernen“ ist ein moderner Slogan – aber keine neue Erfindung. Das zeigt das Beispiel des 72-jährigen Anatoli, der mit Freude Deutsch lernt.

Wir leben in einer Zeit, in der Bildung ein Grundrecht ist. Ebenso ist Bildung ein Grundbedürfnis, welches in jedem gesunden Menschen steckt. Denn es liegt im Wesen des Menschen, geistig zu wachsen. Aber kann man sagen, dass sich Bildung und Lernen nur auf einen bestimmten Lebensabschnitt begrenzen? Sind es nur die Jahre im Kindergarten, dann die der Schule und schließlich als letzte Stufe die der Universität? Diese Fragen konnte ich einem 72 Jahre alten Mann stellen, der mit mir Kurse im Sprachlernzentrum unserer Stadt besucht.

Lernen aus Freude

„Lernen macht mir Spaß“ – damit beginnt mein Gesprächspartner Anatoli seine Antwort. Das ist doch ein exzellentes Beispiel für das natürliche Erlernen einer Fremdsprache, also dann, wenn es allein aus Freude an der Sache geschieht, denke ich mir. Auch an seinem aktiven Lernen sehe ich, dass man das ganze Leben hindurch lernen kann. Da ich selber an meiner Schule, dem Alexander-von-Humboldt-Gymnasium, seit der ersten Klasse Deutschlerne, möchte ich von Anatoli wissen, wie das früher mit dem Deutsch lernen an der Schule war. Ich erfahre, dass auch er seit der ersten Klasse Deutsch lernte. Im Vergleich zu heute habe es früher noch keine Computer, Sprachkurse an privaten Bildungseinrichtungen, Lehrbücher, Austauschprogramme oder das Lernen unterstützende ähnliche Dinge gegeben. Somit seien die Voraussetzungen für ein tiefgründiges Erlernen einer Fremdsprache viel ungünstiger gewesen als heute. Wie ging es weiter mit seinem Deutschlernen, interessiert mich. Nachdem Anatoli lange Zeit nichts mehr mit der deutschen Sprache zu tun hatte, wurde er vor vier Jahren durch das örtliche Sprachlernzentrum auf deren Deutschkurse aufmerksam und beschloss, sein altes Interesse neu zu beleben. Warum denn gerade Deutsch, möchte ich von ihm weiter wissen. Er interessiere sich zwar auch für das Englische und besuche regelmäßig einen englischsprachigen Diskussionsclub, aber das Deutsche gebe ihm das Gefühl der Besonderheit. Über die Methodik des Fremdsprachenerwerbs sagt er, dass es verschiedene Arten und Weisen des Lernens von Sprachen gäbe, aber dass die Hauptsache aus drei Dingen bestehe: schreiben, hören und vor allem sprechen. Gerade hier habe ihm das Sprachlernzentrum geholfen, denn neben der Beschäftigung mit Grammatik habe die Konversation einen hohen Stellenwert. Schmunzelnd fügt er hinzu, dass seine schwachen Seiten die Grammatik und Lexik seien. „Ich brauche ständig ein Wörterbücher bei mir“, lacht er.

Ratschläge an die Enkel

Da er von seinen Enkeln zu erzählen beginnt, frage ich ihn, welche Ratschläge er ihnen gibt. „Ich rate ihnen, viele Bücher zu lesen, weil Lesen phantastische Möglichkeiten eröffnen kann. Und wenn sie noch nicht lesen können, dann ist es wichtig, ihnen vorzulesen, weil es ihre Phantasie anregt.“

Zum Abschluss möchte ich wissen, wie er über die heutige Zeit und die junge Generation denkt. „Heute sind für die Jugendlichen alle Türen geöffnet. So gibt es keinen Eisernen Vorhang mehr. Es gibt die Freiheit der Auswahl“, sagt er und fügt hinzu, dass er junge Leute bewundere, die zwei oder drei Sprachen können, weil sie die besten Voraussetzungen haben, erfolgreich zu sein.

Lera Gladkowa ist 17 Jahre alt und lernt Deutsch am Gymnasium Nr.12 und am Sprachlernzentrum von Öskemen. Im kommenden Herbst möchte sie zum Studieren nach Deutschland gehen.

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Projektbeschreibung

Wie verlief eine Kindheit in Zeiten des leidvollen deutsch-sowjetischen Krieges in Russland? Wie verlebte man dort die Jugend in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit? Wie entwickelte sich dann das Leben in der aufblühenden großen Sowjetunion weiter? Und was für Erkenntnisse und Weisheiten hat ein alter Mensch erlangt, der nun auf sein Leben zurückblickt?

Solche und ähnliche Fragen stellten junge Kursteilnehmerinnen des Sprachlernzentrums in ihrer Stadt Öskemen (russisch: Ust-Kamenogorsk; Hauptstadt des Bezirks Ostkasachstan) an altes deutschstämmige Menschen. Sie trafen sich mit diesen Leuten bei einer Tasse Tee und sprachen über deren Leben. Darauf hielten sie ihre Eindrücke in Aufsätzen fest. Diese Aufsätze sollen nun mit den DAZ-Lesern in einer Serie geteilt werden.

Es fiel auf, dass die befragten Menschen in den ohnehin schwierigen Zeiten des Weltkrieges und der Nachkriegszeit aufgrund ihrer deutschen Herkunft zusätzliche Schwierigkeiten erleiden mussten. Da ist zum Beispiel die heute 85-jährige Nelly Melnikowa. Sie wollte ihre große Leidenschaft Literatur studieren. Da aber Deutschen ein Studium im Bereich der Politik und der Gesellschaftswissenschaft zunächst verwehrt war, musste sie von diesem Traum Abstand nehmen. Oder Emma Waschkau, die als neunjähriges Mädchen ihre Eltern zeitweise verlor, weil diese in die Trudarmee eingezogen wurden. Ein ganz anderer Gesprächspartner ist Anatoli. Dieser ist zwar Russe, aber dennoch hat er einen ganz besonderen und interessanten Bezug zur deutschen Kultur: als 72-jähriger Rentner lernt er noch immer aktiv Deutsch und teilte mit uns auch seine Ansichten über Deutschland und das Lernen im Alter.

Daniel Gallmann (35) ist Sprachassistent des Goethe-Instituts am Sprachlernzentrum Öskemen

Von Lera Gladkowa

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