Für viele Europäer ist die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs nichts Besonderes. In Almaty wird man jedoch vor einige Herausforderungen gestellt. Ein Versuch, den Mikrokosmos des Busfahrens in der Apfelstadt zu verstehen.
Мan sollte meinen, dass Busfahren gar nicht so schwierig sei. In Kasachstan wurde ich eines Besseren belehrt: Überpünktlich stehe ich in der grellen Sonne der Bushaltestelle und warte. Diverse Busse kommen und gehen, doch mein Bus mit der Nummer 63 erscheint einfach nicht. Nach einer halben Stunde gebe ich auf und nehme ein Taxi zur Arbeit. Nach einigen Tagen des Ausprobierens und Beobachtens des Busverkehrs in meiner Straße, finde ich des Rätsels Lösung: Aufgrund einer Baustelle hat der Bus seine Route geändert.
Aber auch ein weiteres Mysterium begleitet den gemeinen Fahrgast in Almaty: das Busticket. Mit der elektronischen Onaj-Karte zahlt man fast nur die Hälfte des üblichen Fahrpreises von 150 Tenge (ca. 40 Cent) und muss kein Kleingeld mehr fürs Busfahren aufheben. Gerne hätte ich so eine Karte gehabt. Aber Pustekuchen: Wie bereits von anderen erfolglosen Kartensuchern angekündigt, gelingt es auch mir nicht, an den für den Verkauf vorgesehenen Kiosken ein solches Ticket aufzutreiben. Wobei mich das ständige „Bäääääggg“ des Kartenlesegeräts im Bus, das den Misserfolg des Abstempelns kennzeichnet, daran zweifeln lässt, ob das System wirklich gut funktioniert.
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Ein anderes undurchsichtiges System ist das der Kontrolleure und Fahrkartenverkäufer. Auf Russisch Konduktoren genannt. Manche tragen eine offiziell aussehende Uniform, andere scheinen Familienmitglieder des Busfahrers zu sein. In Chefmanier haben sie den ganzen Bus unter Beobachtung: Das auch ja niemand schwarzfährt! Manchmal sind die oft grimmig dreinschauenden Kontrolleure aber auch hilfreich und verkünden mangels Durchsagen und Anzeigen die nächste Haltestelle.
Wer keine Onaj-Karte besitzt oder – sofern vorhanden – sein Vertrauen nicht in die Konduktoren setzen möchte, kauft das Busticket vorne beim Fahrer. Dieser hat es sich hinter einem kasachisch aussehenden Vorhang gemütlich gemacht. Der ein oder andere hat die Schuhe ausgezogen oder checkt die What’s-App-Nachrichten der Liebsten. Doch Busfahrern wie einheimischen Fahrgästen gemein ist jedoch die Gelassenheit im Almatyner Verkehrsstress. Kaum Luft zum Atmen und viel Körperkontakt scheint ihnen – im Gegensatz zu mir – rein gar nichts auszumachen.
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Faszinierend ist außerdem das System des Karten- beziehungsweise Geld-durch-den-Bus-Reichens: Da wird jeder Fahrgast zum Hilfsticketkäufer. Fahrgäste, die weiter hinten im Bus einsteigen bitten einfach die anderen, das Geld bis zum Busfahrer durchzureichen. Das gleiche gilt für die Onaj-Karte und die Kartenlesegeräte. Das Abstempeln und Ticketkaufen für andere, das ohne Murren übernommen wird, ist für mich ein Zeichen der Hilfsbereitschaft der Kasachstaner. So wird jede Busfahrt auch zum Versuch, die kasachstanische Gesellschaft besser zu verstehen.
Auch der große Respekt vor dem Alter offenbart sich ein ums andere Mal. Für mich als Deutsche ist dabei nicht immer klar, wie das Prinzip wirklich funktioniert. Dass ich meinen Sitz an schwangere, gebrechliche und alte Menschen abtrete, ist selbstverständlich. Doch hier wird der Platz oft Menschen angeboten, die eigentlich noch gar nicht so alt wirken und recht fit scheinen – oder einfach Frauen jeglichen Alters. Vielleicht bin ich einfach unsensibel: Aber macht man die Leute so nicht älter und hilfloser, als sie wirklich sind?
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Und dann gibt es manchmal auch für Europäer seltsam anmutende Erlebnisse: Bei meiner ersten erfolgreichen Fahrt mit dem Bus 63 zur Arbeit höre ich an einer Haltestelle auf einmal eine männliche Stimme, die in einer mir fremden Sprache laut zu Allah betet. Irritiert schaue ich mich um, kurzzeitig verunsichert, geprägt durch diverse Nachrichten zu Terroranschlägen in den vergangenen Jahren. Auch wenn ich mir eigentlich sicher bin, dass nichts passiert, bin ich froh, als ich sehe, zu wem die Stimme gehört: Ein junger Mann kniet bei der hinteren Bustür. Nach Ende seines Gebets geht er bettelnd durch den Bus. Einige pikierte Blicke treffen ihn, manche ignorieren ihn und von anderen wiederum erhält er ein paar Münzen.
Als sich das gleiche Erlebnis die Woche darauf wieder abspielt, bin ich entspannt. Und so wird fast jede Busfahrt in Almaty zum Erlebnis für mich.