Mein Vater, Gustav Pfeffer, war Rektor der deutschen Schule in Tiflis. Sie erfreute sich eines guten Rufes. Deshalb schickten zahlreiche Intellektuelle – Russen, Georgier, Armenier, Deutsche, Juden – ihre Kinder zuerst in den deutschen Kindergarten, dann in die deutsche Schule. Vater wurde geachtet und gefürchtet. Doch das war keine Furcht schlechthin, sondern Ehrfurcht. Er selbst unterrichtete brillant mehrere Fächer. An der Schule wirkten erstklassige, versierte Lehrer. Die meisten von ihnen hatten noch vor der Revolution an berühmten Universitäten der Welt studiert.

Vater war auch dank seiner Herzenswärme beliebt. Unsere Schule besuchen zwei Brüder, Nachkommen der westgeorgischen Fürstenfamilie Dadeschkeliani. 1924 wurde ihr Vater wie die meisten Adligen erschossen. Schura, der jüngere der beiden, war ohne Arme zur Welt gekommen. Es schien, als sei er zu einem tristen Dasein verurteilt und in jeder Beziehung auf fremde Hilfe angewiesen. Aber Papa ließ Schura nicht im Stich. Er bestellte einen speziellen, niedrigen Tisch und lehrte den Jungen geduldig mit den Zehen schreiben. Es stellte sich heraus, dass Schura auch Talent zum Malen besass. Wie das Schicksal doch schalten und walten kann! Diesmal war es einem Armlosen gewogen. Er war etwa sechs Jahre älter als ich – ein bildhübscher junger Mann; er trug ein weißblau gestreiftes Matrosenhemd, darüber eine schwarze Jacke mit Messingknöpfen und eine „Kapitanka“ (Kapitänsmütze mit glänzendem schwarzen Schild und Kokarde). Auf dem Schulhof spielte er gern mit seinen Kameraden Fußball. Doch wenn mein Vater sich näherte, rief man ihnen zu: „Zizaka modis!“ (georgisch: der scharfe rote Pfeffer kommt), und sofort verschwand der Ball. Er hätte ja eines der zahlreichen großen Fenster treffen können…

Ich war gerade fünfzehn geworden, als meine Eltern verhaftet wurden. Im Gefängnis traf ich Schuras Mutter, eine schöne traurige Dame, ganz in Schwarz. Sie erzählte mir, Lena Peitschadse, das einzige abscheuliche Mädchen aus meiner Klasse, hätte Schura beschuldigt, von ihm vergewaltigt worden zu sein. Aber Schura konnte beweisen, dass er mit den Füßen unmöglich die Hose aufknüpfen konnte. So kam dieses Flittchen hinter Gitter! Nun erwartete Schuras Mutter die Freilassung ihres Sohnes. Ich wollte die beiden bei ihrem Wiedersehen nicht stören, bat nur, ihn zu grüßen und wünschte alles Gute.

Schura malte die Plakate für das Filmtheater „Darbasi“, das sich ganz in der Nähe unseres Hauses befand, so sah ich ihn oft mit seinen Schulkameraden. Später studierte er in Moskau an der Kunstakademie und absolvierte sie mit Auszeichnung.

Jahre vergingen…

Eines Tages klebten an allen Litfaßsäulen von Tiflis Plakate: „Dadesch im Zirkus“. In der Stadt war das neue riesige vom bekannten Architekten Professor Sawrijew entworfene Zirkusgebäude gerade fertig geworden. Ich war schon erwachsen. Von unserer großen Familie war nur ich mit meinem kleinen Sohn in Tiflis geblieben, weil ich die Frau eines Georgiers war. Mein Vater war noch immer im Gulag, alle anderen hatte man in Kasachstan zwangsangesiedelt. Ich ließ es mir nicht nehmen, den Zirkus mit meinem zweieinhalbjährigen Sohn zu besuchen. Der Saal war gedrängt voll, denn wer kannte den armlosen Schura nicht, den „Schura-besruki!“

Über dem Eingang zur Manege ertönte Orchestermusik. Als Schura – ein großer, schlanker Mann – die Manege betrat, erschallte stürmischer Applaus. Zwei Angestellte in Fracks brachten eine Staffelei und einen Ball. Auch seine Assistentin, eine junge hübsche Blondine, kam herein. Schura trug einen schwarzen, glänzenden, innen schneeweiß gefütterten Umhang. Er schwenkte den schwarzen Zylinder zur Begrüßung des Publikums rundum. Danach nahm ihm seine reizende Assistentin den Umhang ab. Da stand er nur im schwarzen Smoking, (die Hände der künstlichen Arme in den Hosentaschen) und begann mit den Füßen den Ball zu jonglieren; er tat das eine ganze Weile, ohne dass der Ball zu Boden fiel. Danach holte er aus der Brusttasche ein Zigarettenetui, öffnete es, nahm sich eine Zigarette heraus und zündete sie mit einem Zündholz an. Nach einigen Zügen reichte er sie seiner Assistentin. Sie brachte einen großen weißen Zeichenkarton auf die Bühne. Schura stellte den Karton auf die Staffelei. Sie reichte ihm Zeichenkohle, und Schura malte rasch ein wunderschönes Bild: ein See, bewaldete Ufer, ein trinkendes Reh und die sich spiegelnde Sonne auf dem Wasser…
Bis heute verstehe ich nicht, wie er es schaffte, mit schwarzer Kohle den Eindruck der Sonnenspiegelung zu erwecken…

Nora Pfeffer

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