Die Straßenfassade der Dorfkneipe erstrahlt im roten Licht. Durch die Tür treten die Figuren auf die Bühne. Da ist der Lehrer, der sich prompt betrunken an der Wirtin vergeht. Er hat einen Ziehsohn: Andri, der „Andere“, der aus dem Nachbarvolk der „Schwarzen“ stammt. Dann ist da der Soldat, der der jungen Barblin nachstellt. Barblin ist die leibliche Tochter des Lehrers – und auch Andri zeigt Interesse an ihr. Doch sowohl seine Heiratspläne als auch der Wunsch, eine Tischlerlehre zu beginnen, werden ihm verwehrt.

Die Andorraner lassen Andri deutlich spüren, dass er nicht zu ihnen gehört und wie er als „Anderer“ zu sein hat. Er beginnt die Fremdzuschreibungen zu verinnerlichen und selbst sein vermeintliches Anderssein zu erkennen. Als die Senora, die Ex-Geliebte des Lehrers, aus dem Nachbarvolk der „Schwarzen“ in Andorra zu Besuch ist, wird sie durch einen Steinwurf getötet. Der Mord wird Andri angehängt. Er wird zum Sündenbock des Dorfes. Als sich zum Schluss herausstellt, dass auch Andri Andorraner ist, hat er die Fremdzuschreibungen bereits so verinnerlicht, dass er gar nicht glauben will, doch dazuzugehören.

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Andorra ist ein prototypisches Dorf. Es steht für ein Modell der Ausgrenzung und Intoleranz. Andris Anderssein wird allein dadurch begründet, dass die Andorraner ihm sagen, er sei anders und gehöre nicht zu ihnen. Es reicht, dass Andri als „Anderer“ bezeichnet wird, um ihn auszugrenzen. Als er unter Mordverdacht steht, gehen die Dorfbewohner nicht mehr nur verbal auf ihn los.

Barblin und Andri.

Das Stück von Max Frisch wurde 1961 am Schweizer Schauspielhaus uraufgeführt. Andorra ist ein fiktiver Ort, doch wird oft als die Schweiz oder Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus angesehen. Natascha Dubs‘ Inszenierung bleibt sehr nah am Originaltext. Sie greift aber eine am Stück geübte Kritik auf, indem sie darauf verzichtet, Andri eine bestimmte Religion oder Ethnizität auszuweisen. Es gehe ihr darum, zwischenmenschliches Verhalten aufzuzeigen: „Mir war es wichtig, den Moment des Andersseins zu zeigen. Wenn ich sage, dass er Jude ist, macht es das Stück enger. Das Verhalten der Andorraner kann überall passieren, wo Menschen zusammen leben. Auch innerhalb einer Familie.“

In Zwischeneinlagen, die einem Verhör gleichen, beteuern die Dorfbewohner im Schein einer Taschenlampe ihre Unschuld. Sie hätten nicht gewusst, dass Andri kein „Anderer“ sei. Hätten sie es gewusst, wäre das alles nicht passiert. In der Schlussszene lässt Natascha Dubs die Andorraner durch die Zuschauerreihen gehen. Die Zuschauer werden Teil Andorras.

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Der Schmerz und das Unverständnis der Ausgrenzung gegenüber, werden in den Performances von Bekarys Baranbajew als Andri und Julia Koschomina als Barblin spürbar. Die slapstickartigen Szenen der Ärztin, gespielt von Swetlana Skobina, durchbricht die sonst ernste Inszenierung. Die humoristische Darstellung lockert das Stück auf, geht jedoch zeitweise zu weit ins Lächerliche. Die Inszenierung findet auf Deutsch statt – eine sehr beeindruckende Leistung, da nicht alle Schauspieler Deutsch sprechen. Für alle nicht Deutsch sprechenden Zuschauer, wird das Stück simultan ins Russische übersetzt.

Auch wenn Natascha Dubs die Inszenierung zeitlos und ohne fixe Verortung anlegen möchte, erinnern Kulisse und Kostüme an ein alpines Dorf der 50er Jahre. Das gelungene Bühnenbild arbeitet mit Projektionen. Auf eine Front werden die Fassade der Dorfkneipe, das Haus des Lehrers und die Tischlerwerkstatt projiziert. Dabei wird mit traditionellen Dorfbildern gearbeitet. Das Bühnenbild wird durchbrochen, wenn Andri in seine Erinnerungen eintaucht und diese wie auf einem Tablet vor- und zurückwischt.

Fremdzuschreibungen und Vorurteile sind wiederkehrende Themen bei Max Frisch. So schreibt er in seinem Stück „Stiller“: „Jedes Bildnis ist eine Sünde. Es ist genau das Gegenteil von Liebe […] Wenn man einen Menschen liebt, so lässt man ihm doch jede Möglichkeit offen und ist trotz allen Erinnerungen einfach bereit, zu staunen, immer wieder zu staunen, wie anders er ist, wie verschiedenartig und nicht einfach so, nicht ein fertiges Bildnis […].“

Julia Schönherr

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