Jeder hat sie! Die Ticks, die uns zur Persönlichkeit machen. Zwanghafte Handlungen, die wir uns nicht abgewöhnen können, die uns und andere nerven; die an Pawlow erinnern und unsere Selbstbestimmtheit in Frage stellen.

Die uns fragen lassen, ob wir mal einen Psychiater aufsuchen sollten und ob wir nicht erfolgreicher wären, wenn nur diese Ticks nicht wären.

Wie sehr uns unsere Macken unter den Nägeln brennen, zeigt jetzt das Forum der Süddeutschen Zeitung in der online Version (www.sueddeutsche.de/app/kultur/ticks/). Dort kann ein jeder seine Ticks anonym zum Besten geben, sich outen, sich etwas von der Seele reden, Angewohnheiten zugeben, die nicht einmal die Partner wissen dürfen. Dieses Forum erlebt einen großen Ansturm, jeder will von seinen Ticks erzählen. Aktuell gibt es 3408 Einträge, und es werden stündlich mehr. Die größte Macke besteht darin, sich an Zahlen zu erfreuen, alles Mögliche zu zählen, zu multiplizieren und der totale Renner – die Quersumme zu bilden. Die digitale Uhrzeit ruft die größten Gefühlsregungen hervor, manche machen bei ihrer Lieblingszahlenkombination einen Freudensprung.

Besonders groß ist die Freude, dass viele andere auch diese Macke haben. Gott sei Dank, ich bin nicht allein, ist da sehr deutlich rauszuhören. Manche hatten sich schon selbst für verrückt erklärt, nun fällt ihnen ein Stein vom Herzen. Wofür man sich zuvor schämen musste, damit wird jetzt hemmungslos kokettiert. Manch einer hält für einen Tick, dass beim Schlafen das Fenster geöffnet sein muss oder die Füße unter der Decke sein sollen. Also bitte, wenn wir das zu Grunde legen, dann kommen wir aus den Ticks gar nicht mehr heraus. Aber es scheint ein tiefes Bedürfnis, sich über die Angewohnheiten auszutauschen.

Die Ticks wollen raus, ans Tageslicht, in die Öffentlichkeit. Und drum werden sie auch bald nicht mehr nur im Forum bleiben. In den Bürogesprächen werden sie zum Thema Nummer eins. Über gemeinsame Macken werden sich womöglich neue Bündnisse und Freundschaften ergeben. Dann treffen sich die Menschen nicht mehr, um gemeinsam zu saufen, zu kegeln oder zu wandern. Dann werden sie sich gemeinsam, gegenseitig und mit Wonne ihre Pickel ausdrücken oder am Daumen lutschen. Und noch ein bisschen später werden sich die Ticks in den Bewerbungsvoraussetzungen finden. Dann sind Leute gefragt, die sich bemühen, beim Essen möglichst das Messer nicht zu benutzen, weil sie dadurch Geschicklichkeit, Kreativität und Hartnäckigkeit beweisen oder einfach nur, weil sie diesen Tick mit dem Chef teilen.

Einen Vorteil hat die Tick-Manie – es ist eine Chance für Querulanten, Muffel und schrullige Typen. „Das ist mein Tick, ich kann nicht anders“ wird alles erlauben. Dann wird man mir vielleicht auch nachsehen, dass ich mich beim gemeinsamen Essen verweigere, dass jeder von jedem probiert. Jeder soll seine Pizza selbst essen. Finde ich. Und bald kann ich es auch laut aussprechen. Und eines Tages bekomme ich für diese Aussage einen lukrativen Auftrag.Ich sollte es gleich mal ins Forum eingeben und schauen, ob ich Gleichgesinnte habe. Vielleicht stehe ich mit dieser Haltung nicht alleine da und kann gar neue Freunde finden. Und dann treffen wir uns hin und wieder zum Essen und sind erfreut und erleichtert, dass uns niemand nötigt, von seinem Gericht zu probieren.

Na, wenn das nicht tolle Aussichten sind!

Julia Siebert

21/09/07

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