Jakob Fischer hat sicherlich wie kaum ein Zweiter zur Popularisierung des russlanddeutschen Liedgutes beigetragen. In einem Interview mit Dr. Olga Silantjewa, Chefredakteurin des BiZ-Boten (Bote des Bildungs- und Informationszentrums, angegliedert an das Deutsch-Russische Haus in Moskau), spricht er über die Bedeutung dieses Liedgutes für die gesamte russlanddeutsche Kultur, auch und gerade in der Zukunft.
Dr. Olga Silantjewa: Russlanddeutsche Volkslieder – gehören sie zum immateriellen Kulturerbe des Volkes? Was ist daran so besonders, dass es typisch und wichtig für die Russlanddeutschen ist?
Jakob Fischer: Die Menschen sind schon immer mit Liedern aufgewachsen, angefangen beim Wiegenlied, das Mutter und Vater dem Kind zum Einschlafen vorsingen. Ein Lied macht froh und glücklich, vereint die Menschen und weckt Gefühle füreinander. Volkslieder transportieren zudem die mündlich überlieferte Geschichte eines Volkes. Im Falle der Russlanddeutschen sind die Volkslieder auch ein Ausdruck der nationalen Identität. Viele Lieder, die die Deutschen nach Russland mitgebracht haben, stammen aus dem 15. bis
18. Jahrhundert. Später haben im 19. und 20. Jahrhundert die bereits in Russland lebenden Deutschen zahlreiche Lieder aus deutschsprachigen Ländern übernommen.
Für die Russlanddeutschen nehmen die Lieder eine besondere Stellung ein, weil sie in den schweren Zeiten der Deportation, der Zwangsarbeitslager und der Sonderkommandantur, als es verboten war, die deutsche Sprache zu verwenden und die eigenen Traditionen zu leben, halfen, ein Stückchen der Sprache und Kultur im Familienkreis zu bewahren.
Thematisch beschäftigen sich die Lieder der Russlanddeutschen mit der verlorenen Heimat, der Sehnsucht nach Heimat, der Tragik des Heimatlosen. Deshalb sind meiner Meinung nach die von den Russlanddeutschen gesungenen und auch selbst verfassten Lieder Teil des deutschen immateriellen Kulturerbes, vor allem auch weil das Liedgut und die Traditionen der Deutschen in Russland hier im Westen kaum bekannt sind.
Wenn es das Kulturerbe ist, dann sollen die Lieder rechtlich geschützt werden. Wie soll das gehen? Was müssen wir tun, um die deutschen Volkslieder zu bewahren?
Das ist eine schwierige Frage. Die Forschung tut bereits einiges, um das Liedgut der Deutschen aus Russland wissenschaftlich zu untersuchen und dadurch aufzubewahren.
Der Buchautor Robert Korn und der Musiker Eduard Isaak haben 2011 ein großes Liederbuch unter dem Titel „Es war einmal …“ (Das Liedgut der Deutschen aus Russland) beim Waldemar-Weber-Verlag in Augsburg (Bayern) herausgebracht.
Die Wissenschaftlerin Jelena Seifert aus Moskau hat beispielswiese 678 russlanddeutsche Lieder in einer ihrer Monographien gesammelt.
Einen wichtigen Beitrag zur Bewahrung des russlanddeutschen Liederschatzes leisten der Folkloresammler Johann Windholz und das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold (Nordrhein-Westfalen). Im kleinen Rahmen kann aber jeder etwas tun, indem er diese Lieder singt und an seine Nachkommen weitergibt.
Wie lange werden die Nachkommen die Lieder über die Sehnsucht nach Heimat, nach der Wolga verstehen und singen? Verlieren die russlanddeutschen Lieder nicht an Bedeutung?
Nein, sie verlieren sie nicht. Die Jugend, die einen ganz besonderen Bezug zu Russland hat, blüht buchstäblich auf, wenn sie russlanddeutsche Lieder hört.
Sie selbst haben Musikalben mit russlanddeutschen Volksliedern produziert. Wie hat sich das Interesse an russlanddeutschen Volksliedern in Ihrem Leben entwickelt?
Schon als Kind habe ich zusammen mit meiner Mutter viele Volkslieder und kirchliche Lieder gesungen. Auch während meiner Schul- und Studentenzeit habe ich meine Leidenschaft für Gesang weitergepflegt und bin als Gesangssolist und Chorsänger sowie als Konzertveranstalter und Moderator aufgetreten.
Nachdem ich durch meine Arbeit als stellvertretender Direktor des Deutschen Theaters Temirtau-Alma-Ata mit sehr vielen Musik- und Gesangsgruppen in der damaligen Sowjetunion in Kontakt kam, reifte die Idee, der gesamten sowjetischen Öffentlichkeit das Potenzial der russlanddeutschen Kulturschaffenden und Laienkünstler auf einem Festival der deutschen Kultur zu präsentieren, was sich zum ersten Mal im Januar 1988 in Temirtau und im Gebiet Karaganda, danach im Oktober 1990 in Alma-Ata verwirklichen ließ.
Zu diesem Zweiten Allunionsfestival in der damaligen kasachischen Hauptstadt konnte ich alle, absolut alle deutschen Gesang-, Tanz- und Musikgruppen einladen. Dieses Festival wurde mit über 120 deutschen Chören, musikalischen Ensembles und Orchestern, Gesangs- und Tanzgruppen aus der gesamten damaligen UdSSR, aber auch aus der BRD und der DDR, zum größten Ereignis in der 250-jährigen Kulturgeschichte der Deutschen in Russland.
Nach meiner Ausreise nach Deutschland wollte ich wenigstens einen Teil der häufig gesungenen Volkslieder der Deutschen in Russland bewahren, indem ich zusammen mit Katharina Rissling, Eduard Frickel und Wladimir Dederer und weiteren Sängerinnen, Maria Penner-Weimer, Ida Haag-Depperschmidt, Lina Neuwirt, Ludmila und Veronika Fischer, im Tonstudio drei CD-Alben mit russlanddeutschen Volksliedern und Tanzmelodien aufgenommen und veröffentlicht habe.
Unser Liederbuch „Deutsche Volkslieder aus Russland“ wird immer noch sehr oft von deutschen Kulturzentren in Russland, Kasachstan, Argentinien und deutschlandweit über die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland bestellt.
Was sind Ihre Lieblingslieder?
„Es wollt ein Mann nach seiner Heimat reisen“, „Wenn alles grünt und blüht auf dieser Erde“, „Heimat, wie bist du so schön“, „Auf der Kalinenbrück“, „Hätt ich dich nicht gesehen“, „Ein weißes Blümelein hab ich gefunden“, „Dreihunderttausend Mann, die zogen ins Manöver“, „Hopsapolka (Tanz mit mir, Mädchen von der Wolga)“, „Schön ist die Jugend“, „Fritz und Olga“, „Die Hinkel und die Gickel (Hühner und Hähne)“, „Ach, Heinrich, stolzer Heinrich“, „Holde Blum der Männertreu“, „Heimweh (Heute in der Nacht)“, „Morgen will mein Schatz verreisen“ und viele andere Lieder mehr.
Eine stolze Liste. Gibt es für Sie den Unterschied zwischen den „rein deutschen“ Liedern und den russlanddeutschen Volksliedern über Olga, Wolga und Hopsapolka?
Die Lieder, die ich seit meiner Jugend singe, gehören – unabhängig davon, ob sie deutsche oder russlanddeutsche Ursprünge haben – für mich zur Erinnerungskultur. Sie waren für mich immer identitätsstiftend. Durch die Lieder wusste ich, woher ich komme, zu wem ich gehöre, wer meine Vorfahren sind, wie meine Geschichte ist. Speziell die russlanddeutschen Lieder sind für mich eine Verbindung zur alten Heimat an der Wolga und in Zentralasien.
Wie oft singen Sie diese und weitere Lieder? Nur beruflich? Im Alltag? Auf Hochzeiten?
Das Singen begleitet mich schon mein ganzes Leben. Ich singe sowohl beruflich als auch privat im engen Familienkreis oder bei größeren Treffen mit Verwandten und Freunden, und wenn sich die Gelegenheit bietet, auch bei Hochzeiten.
Ihre Musikalben sind meiner Meinung nach ein sehr wichtiger Beitrag zur Erhaltung der russlanddeutschen Lieder. Ende der 1990er bis Anfang der 2000er Jahre haben wir diese Lieder fast täglich gehört und gesungen. Aber inzwischen ist es ein paar Jahre her, dass die Alben herausgegeben wurden. Finden Sie nicht, dass das Interesse an den Liedern in den letzten Jahren gesunken ist?
In Deutschland existieren über 100 russlanddeutsche Chöre und Gesangsgruppen, die der Öffentlichkeit regelmäßig russlanddeutsche Lieder präsentieren. Ich bin mit den meisten Chören in ständigem Kontakt und unterstütze sie bei der Auswahl neuer Lieder für ihr Programm. In den letzten zwei Jahren wurde wegen der Coronapandemie grundsätzlich sehr wenig gesungen, nicht alle Chorproben und Konzerte finden statt.
In Berlin und in Nordrhein-Westfalen werden demnächst neue Liederalben mit russlanddeutschen Volksliedern produziert. Dadurch hat das Liedgut der Russlanddeutschen trotz aller bekannten Probleme und Schwierigkeiten noch eine Zukunft.
Werden heute neue russlanddeutsche Lieder geschrieben? Wie sehen Sie die Zukunft des Liederguts und der russlanddeutschen Kultur insgesamt?
Die russlanddeutsche Autorin und Sängerin Lina Neuwirt hat eigene Lieder über das Schicksal der Deutschen in Russland komponiert und diese in zwei Alben veröffentlicht. Ihr bekanntestes Lied „Mein Heimatdorf“ erfreut sich unter den Russlanddeutschen großer Beliebtheit und wird oft rezipiert.
Nach der Rückkehr nach Deutschland wird die Kultur der Russlanddeutschen wohl von den nachkommenden Generationen nicht mehr gepflegt werden. Das liegt in der Natur der Dinge. Möglicherweise wird die russlanddeutsche Kultur von der deutschen Minderheit, die sich noch in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion befindet, eine gewisse Zeit weitergelebt werden.
Finden Sie nicht, dass die Deutschen aus Russland und in Russland bzw. in Kasachstan einen intensiveren Kulturaustausch brauchen, um beispielsweise zu erfahren, dass es neue russlanddeutsche Lieder gibt. oder zu sehen, was jenseits der Grenze gesungen wird? Haben Sie nicht an ein grenzübergreifendes Festival wie damals 1990 gedacht?
Die Idee ist wunderschön. Das ist mein Traum, so ein Festival zu organisieren und möglichst viele Gesangsgruppen zusammenzubringen. Vielleicht in Russland, oder auch in Deutschland oder Kasachstan.
Sie arbeiten viel mit Jugendlichen zusammen. Wie kann man russlanddeutsche Volkslieder unter Jugendlichen popularisieren?
Leider habe ich die Erfahrung gemacht, dass in der Schule mit den Jugendlichen viel zu wenig bis kaum gesungen wird, und wenn doch, dann überwiegend auf Englisch. Die eigene deutsche Sprache wird in Deutschland stark vernachlässigt und das deutsche Liedgut nicht gepflegt. Die meisten Jugendlichen finden deutsche Volkslieder nicht mehr zeitgemäß und hören lieber englischsprachige Musik.
Deutschsprachige Lieder unter den Jugendlichen beliebter zu machen, ist in erster Linie Aufgabe der staatlichen Bildungspolitik und der Lehrerschaft. Ansonsten sind die Eltern gefragt, die die Lieder mit ihren Kindern einfach häufiger singen und stärker in ihr Leben integrieren könnten. Aber das bleibt natürlich jedem selbst überlassen.
Eine Möglichkeit, das russlanddeutsche Liedgut nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, wäre, die Jugendlichen zu ermutigen, in den zahlreichen russlanddeutschen Chören mitzumachen, die über Nachwuchssänger sehr froh wären.
Was könnte noch auf die repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Russlanddeutschen gesetzt werden, außer Liedern?
Einen großen Bereich stellt die russlanddeutsche Literatur dar. Wir haben zahlreiche Schriftsteller und Dichter, die sich durch ihre Werke über die Zeit der Vertreibung hervorgetan haben. Auch die russlanddeutschen Dialekte nehmen eine Sonderstellung unter den vorhandenen deutschen Dialekten ein. Nicht vergessen werden sollten auch die bildende Kunst und natürlich auch die Alltagskultur mit ihren Bräuchen (Religion, Essen, Kleidung usw.) aus den Siedlungsgebieten der Wolga-, Schwarzmeer-, Bessarabien-, Kaukasus- und Wolhyniendeutschen.
Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland leistet bereits einen Beitrag zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes und veröffentlicht nach und nach Videos auf You-Tube, Instagram, Facebook über die beiden Festivals der deutschen Kultur 1988 und 1990 in Kasachstan, über russlanddeutsche Dialekte, über Aufführungen des Deutschen Theaters Temirtau-Almaty und über Auftritte der Russlanddeutschen in deutschen Gemeinden in Argentinien.