„Kiezdeutsch“ wird zum Forschungsgegenstand: Die Potsdamer Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese entdeckt einen neuen Jugend-Dialekt und baut durch ihre Forschungsergebnisse viele Vorurteile in der Bevölkerung ab.

„Lassma Kino gehen!“ Dieser Satz klingt für jeden, der an Hochdeutsch gewöhnt ist, etwas eigenartig. Nicht nur grammatikalisch, sondern auch inhaltlich glaubt der deutsche Bildungsbürger zunächst an den Gebrauch von sogenanntem „Türkendeutsch“, einem deutschen Soziolekt, der meist von türkischen Migrantengruppen in deutschen Ballungszentren gesprochen wird.

Traditionsbewahrer und Verfechter eines guten Deutsch sprechen sogar von einem völlig entgleisten Deutsch. Ist das wirklich so? Entspricht es den Tatsachen, dass Sätze wie „Hey, machst du rote Ampel!“ oder „Ich geh Schule!“ wirklich voller sprachlicher Fehler sind? Weit gefehlt! Hier handelt es sich um „Kiezdeutsch“, einen neuen Dialekt, der von Jugendlichen gesprochen wird.

Heike Wiese, Professorin für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Potsdam, belegt mit ihren Untersuchungen, dass dieser neuartige deutsche Dialekt insbesondere in den multiethnisch geprägten Stadtteilen von Berlin, Hamburg und München gesprochen wird. Als Dialekt bzw. Mundart bezeichnet man die örtlich regionale Ausprägung einer Sprache. So ist der neue Dialekt des Kiezdeutsch auch zunächst in einem lokalen und später regional abgegrenzten Gebiet, dem „Kiez“, entstanden. Ein Merkmal von Dialekten ist, dass sie vor allem gesprochen und seltener geschrieben werden.

Menschen, die Dialekte sprechen, beherrschen daneben immer eine Standardsprache. Beim Kiezdeutsch ist es genauso: Die Sprecher können sich darüber hinaus der übergreifenden Standardsprache Deutsch bedienen.

Nachdem Heike Wiese mit ihren Mitarbeitern umfangreiches Tonmaterial ausgewertet hatte, kommt sie in ihrer sprachwissenschaftlichen Analyse zu dem Schluss, dass in dieser Jugendsprache völlig neue grammatikalische Regeln aufgestellt und neue Wörter gebildet werden. In ihrem Buch „Kiezdeutsch“ führt sie aus, dass Wortschöpfungen vor allem durch fremde Einflüsse anderer Sprachen wie dem Kurdischen, Arabischen oder Türkischen entstehen können. Es handele sich nicht einfach um falsches Deutsch, sagt die Sprachwissenschaftlerin, sondern um einen eigenen Dialekt. Auch sei Kiezdeutsch bei weitem keine Mischsprache: Elemente aus dem Türkischen oder Arabischen bsp. werden in den deutschen Dialekt mitsamt Betonung und Aussprache integriert.

Nun mögen manche denken, dass Kiezdeutsch wahrscheinlich nur von einer bestimmten Schicht in deutschen Großstädten gesprochen wird – und zwar von der bildungsfernen, wenig vermögenden Unterschicht. Auch das kann Wiese widerlegen. Kiezdeutsch wird nicht etwa nur auf der Straße, sondern in allen sozialen Milieus gesprochen. Dabei ist die Herkunft der Jugendlichen völlig unterschiedlich und nicht auf eine spezielle Schicht einzugrenzen. Kiezdeutsch ist in mehrsprachigen Wohngebieten anzutreffen, sowohl unter Hauptschülern als auch unter Gymnasiasten.

Mit diesen Erkenntnissen baut Heike Wiese in ihrem Buch „Kiezdeutsch“ eine Menge von festgefahrenen Vorurteilen in der Bevölkerung ab. Der Dialekt sei eben nicht das typisch gebrochene Deutsch von Zuwanderern, die sich nicht integrieren wollen oder können. Kiezdeutsch habe sich als neuartige Jugendsprache entwickelt und gehöre schon längst zum (großstädtischen) Alltag. Es ist ein großer Verdienst der Sprachwissenschaftlerin aus Potsdam, die mit ihren Untersuchungsergebnissen für mehr Verständnis und Offenheit wirbt. Befürworter erkennen im neuen Jugenddialekt und seinen systematischen Eigenheiten viel Kreativität und den Beweis gelingender Integration. So lassen sich die verkürzten Sätze und grammatikalischen Besonderheiten auf ein umgangssprachliches Deutsch zurückführen, führt Heike Wiese aus. Dieses Deutsch habe es mit Wendungen wie „Alle Fahrten enden Bahnhof Charlottenhof“ schon immer in der Alltagssprache gegeben.

Die Jugendlichen versuchen sich laut Wiese mit dem Gebrauch von Kiezdeutsch von der Erwachsenenwelt abzugrenzen. Genauso wie sich die sozial führende Mittelschicht mit dem Hochdeutschen von der sogenannten Unterschicht und deren Gebrauch von Dialekten abgrenzen und isolieren wolle, sei dies mit dem Kiezdeutsch ganz ähnlich. Sowohl Dialektsprecher als auch Kiezdeutsch-Sprecher hätten jedoch nach Wieses Untersuchung dieselben Erfahrungen mit einer „sozialen Abwertung“ gemacht: Menschen, die Dialekt und Mundart sprechen, werden meist sozial schwächer und sogar dümmer eingeschätzt. Diese Abgrenzung ist zwar ungerecht und wird vielen Sprechern nicht gerecht. Trotzdem entspricht sie der Realität, wie es beim Gebrauch des Türkendeutsch der Fall ist.

Das Phänomen des Türkendeutsch wurde 1995 von Feridun Zaimoglu in seinem Buch „Kanak Sprak – 24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft“ erstmals ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt. Viele Bürger verbinden mit diesem Soziolekt des „Türkendeutsch“ die Sprache von Zuwanderern mit Integrationsproblemen. Die eindeutig herabwürdigende und beleidigende Ansprache „Kanake“ wird außerdem seit einigen Jahrzehnten in Deutschland als diskriminierendes Schimpfwort verstanden. Auf der anderen Seite bezeichnen sich Zuwanderer mit Migrationshintergrund aus Süd- und Südosteuropa sowie arabischer oder persischer Abstammung oft selbst als „Kanaken“ und drücken damit ihre eigene, positiv verstandene Identität aus. Das Türkendeutsch verfügt aber ähnlich wie der neue Dialekt des Kiezdeutsch über eigene Sprachstrukturen und Sprechstile. Trotz der Gemeinsamkeiten dürfe jedoch Kiezdeutsch nicht mit dem Türkendeutsch verwechselt werden. Heike Wiese betont in ihrer Forschungsarbeit, dass Kiezdeutsch keine ethnischen Eingrenzungen wie das Türkendeutsch kenne, sondern von Jugendlichen ganz unterschiedlicher Herkunft gesprochen wird. Die Sprecher beherrschen neben diesem Dialekt immer noch andere Varianten des Deutschen bzw. die Standardsprache Deutsch.

Die Debatte um den neuen Jugenddialekt bleibt jedoch spannend. Obwohl Kritiker schon die Entstehung eines neuen Dialektes an sich bezweifeln, ist es eine Tatsache, dass die Jugendsprache ein Spiegel der Gesellschaft und der multiethnischen Milieus in den Großstädten Deutschlands ist.

Von Malina Weindl

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