Vom 29. Oktober bis zum 4. November 1918 fand der erste Kongress der Verbände der Arbeiter- und Bauernjugend statt. Die Erstürmung des Winterpalais war zu diesem Zeitpunkt gerade erst rund ein Jahr her. Auf diesem Kongress wurde die Gründung des sogenannten Russischen Kommunistischen Jugendverbandes beschlossen. Die Organisation hatte als Nachwuchsorganisation der Kommunistischen Partei Russlands das Ziel, die Jugend nach den Idealen des Kommunismus zu erziehen. Besser bekannt ist die Organisation unter ihrem späteren Namen: Leninscher Kommunistischer Allunions-Jugendverband, oder kurz Komsomol.

Wladimir Lenin forderte auf dem dritten Kongress des Komsomol, der vom 2. bis zum 10. Oktober 1920 stattfand, die Jugend solle den Kommunismus studieren. Das Ziel war eine Gesellschaft des sozialistischen Aufbaus, die Jugend galt als der Erbauer des Sozialismus. In dieser Rolle waren junge Komsomolzen in hohem Maße an Industrialisierungs- und Kollektivierungskampagnen der 1920er Jahre beteiligt. Der Komsomol spielte eine wichtige Rolle beim Aufbau der Schwerindustrie der Sowjetunion. Als größtes Werk der Jugendorganisation gilt die Errichtung der Stadt Komsomolsk am Amur. Die Komsomolzen bauten Eisenbahnlinien, Atomkraftwerke, ganze Städte, oder waren an Kampagnen zum Beispiel zur Verringerung des Analphabetismus in den Dörfern der Sowjetunion beteiligt. Sie spielten eine große Rolle beim Bau der Turkestan-Sibirischen Eisenbahn quer durch die kasachische Steppe und bei der sogenannten Neulandgewinnung, der Kampagne zur Urbarmachung der Steppengebiete in Südsibirien und dem Norden Kasachstans.

Die Wurzeln der Jugendbewegung Kasachstans

Am 3. Juni 1902 wurde in der Kleinstadt Kazalinsk im Gebiet Kyzylorda ein gewisser Gani Muratbajew geboren. Ihm war von Anfang an kein leichtes Leben vergönnt. Bereits kurz nach seiner Geburt starb sein Vater. Die Mutter musste Gani und seine Schwester nun mit Gelegenheitsarbeit als Tagelöhnerin durchbringen. Nach dem Besuch einer russischsprachigen Schule, wo Gani Muratbajew sein Interesse an Wissen und Lehre entdeckte, führte er seine Ausbildung an einem pädagogischen Institut fort. Der nächste Schicksalsschlag folgte im Jahr 1916, als seine Mutter und Schwester an Typhus starben. Gani Muratbajew ging daraufhin nach Taschkent, zog in ein Internat und erlangte eine mittlere Hochschulausbildung.

Im Jahr 1918 schienen die Zeichen der Zeit für Gani Muratbajew gekommen zu sein. In Moskau wurde der Komsomol gegründet. Muratbajew schloss sich der Bewegung an, und gründete die erste Komsomolzenorganisation in Kasachstan. Als Leiter des Komsomol der Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik, welche damals noch Kasachstan mit einschloss, unterstützte er Straßenkinder und arme Jugendliche, brachte sie in Internate, kümmerte sich um Dokumente, vermittelte ihnen Arbeitsplätze, und integrierte sie in die Gesellschaft. Gani Muratbajew stand an den Wurzeln der ersten Jugendbewegung Kasachstans.

Gani Muratbajew stirbt früh

Zwischen 1921 und 1924 leitete er als Erster Sekretär des ZK des Komsomol Turkestans ebenfalls die Jugendorganisationen der Usbekischen, Tadschikischen, Turkmenischen und Kirgisischen Sowjetrepubliken sowie der südlichen Gebiete Kasachstans. Gani Muratbajew interessierte sich neben seinem Engagement in der gemeinnützigen Kinder- und Jugendarbeit auch für die Ethnografie. Er ermunterte Jugendliche, regionale Legenden und Sagen aufzuschreiben. So wurde mit ihrer Hilfe im Jahr 1925 in Orenburg das monumentale Werk „1.000 Lieder des kirgisischen Volkes“ herausgegeben.

Doch auch dieser talentierte und engagierte Mensch verließ die Welt viel zu früh. Gani Muratbajew starb am 15. April 1925 in Moskau an Tuberkulose. Sein Grab befindet sich auf dem Moskauer Wagankowsker Friedhof. Die Arbeit des Komsomol lief indessen ungehindert weiter. In den Jahren 1971 bis 1975 waren etwa 500.000 Komsomolzen am Bau von rund 670 Objekten in der Sowjetunion beteiligt, darunter das LKW-Werk KAMAZ, die Baikal-Amur-Eisenbahnmagistrale, das Atomkraftwerk Atommasch in Wolgodonsk und Anlagen der Erdgas- und Erdölgewinnung in Sibirien. In den 1970er Jahren wurden circa 10.000 Dorfschulen errichtet, in denen 98.000 Menschen arbeiteten und unterrichteten. Mit diesen Bildungseinrichtungen wurden 19 Millionen Menschen erreicht. Die Bildung und Schulung von Kindern und Jugendlichen im Sinne des Sozialismus war immer die wichtigste Aufgabe des Komsomol, die Organisation war die Kaderschmiede für spätere Funktionäre im politischen System der Sowjetunion.

Inspiration für Baikonur

Doch nicht nur Dorfschulen wurden im Bildungssystem der Sowjetunion errichtet. In der Stadt Alma-Ata entstand in den 1970er Jahren ein ganz besonderes Großprojekt. Zwischen 1979 und 1983 wurde der sogenannte Palast der Schüler erbaut. Darin wurden aber nicht nur politische Inhalte vermittelt. Bis in die 90er Jahre hinein gab es bis zu 80 unterschiedliche Lern- und Arbeitsgruppen, in denen sich Kinder und Jugendliche mit Sport, Technik und Wissenschaft, Astronomie oder Kunst und Kunsthandwerk beschäftigen konnten. Vermutlich fanden einige Ingenieure, die im nahen Weltraumbahnhof Baikonur Raumschiffe entwickelten, ihr Interesse an der Luft- und Raumfahrt in einer der Jugendarbeitsgruppen hier im Palast der Republik.

Besonders spektakulär ist allerdings die Architektur des Schülerpalastes, welcher mit seinem 40 Meter hoch aufragenden Observatorium und seiner großen, goldenen Kuppel über dem Festsaal selbst aussieht wie ein Raumschiff oder ein Objekt aus fernen Galaxien. Die geschwungene, dynamische Architektur, die sich wie zu einer Spirale zusammenrollt, soll ebenfalls Kreativität, Interesse und Forschergeist der Kinder und Jugendlichen wecken. Der Gebäudekomplex entstand in einer wilden Zeit gegen Ende der Sowjetunion, in der die moderne Sowjetarchitektur oftmals verrückt zu spielen schien. Die Fassade vor dem Hintergrund der Berge des nahen Transili-Alatau-Gebirges gehört zu den spektakulärsten, die die Stadt Almaty bis heute zu bieten hat.

Direkt vor dem Schülerpalast befindet sich eine Statue. Es ist das Denkmal des berühmten Wohltäters und Gründers des Komsomol Kasachstans Gani Muratbajew. Das Monument wurde an dieser Stelle 1985, zum 60. Todestages Muratbajews, eingeweiht und ist heute ein geschütztes Denkmal der Stadt Almaty. Der Palast der Schüler trägt ihm zu Ehren seitdem seinen Namen.

Der Geist des Komsomol lebt weiter

Noch in den 1970er und 1980er Jahren zählte die Komsomol-Organisation etwa 40 Millionen Mitglieder im Alter von 14 bis 28 Jahren. Doch die Zeit der Komsomolzen auf den Großbaustellen des Sozialismus, im Bildungssystem der Sowjetunion, oder schlichtweg beim Subbotnik – der unbezahlten, freiwilligen Samstagsarbeit – waren gezählt. Die Sowjetunion stand vor dem Aus. Im August 1991 putschten konservative Militärs gegen den Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Michail Gorbatschow und dessen Politik des Umbaus und der wirtschaftlichen Umgestaltung. Der Putsch misslang. Der Komsomol als Organisation wurde am 19. August 1991 verboten. Die Nachfolgeorganisation des Leninschen Kommunistischen Verbands der Jugend der Republik Kasachstans war der Verband der Jugend Kasachstans.

Der Palast der Schüler wurde 2014 vorübergehend geschlossen. Zum ersten Mal in dessen 30-jähriger Geschichte stand eine Generalsanierung des Gebäudekomplexes an. Zum sogenannten Tag des Wissens, dem 1. September 2015 – in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion traditionell der Tag der Einschulung nach den Sommerferien – eröffnete der Palast der Schüler wieder seine Tore und Türen. Und auch der Komsomol, der zwar seit 1991 offiziell nicht mehr existiert, lebt trotzdem irgendwie bis heute weiter. Viele Parteien, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus der KPdSU hervorgegangen sind, besitzen heute eigene Jugendorganisationen, die ähnliche politische Ziele verfolgen und ähnlich organisiert sind. Die Jugendfraktion der russischen Präsidenten-Partei „Einiges Russland“ ist die Organisation „Die Unseren“. Ein Komsomol-Nachfolger in Weißrussland heißt Weißrussische Republikanische Junge Union, die Jugendorganisation der Ukrainischen Kommunisten nennt sich bis heute Komsomol. Es sind die Geister der untergegangenen Sowjetunion, die auch heute noch ab und zu durch Gesellschaft und Politik wehen.

Philipp Dippl

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