Wie Robin Rehm, Sprachassistent des Goethe-Instituts, die Feierlichkeiten des Martinstags bei der Deutschen Gesellschaft in Taras in der Region Dschambul erlebte.

„Matt’n Matt’n Herr’n, Die Äppel und die Bir’n, Die mögen wir so gern.“ So fängt ein Lied an, das ich unzählige Male gesungen habe. Vor den Türen vieler fremder und bekannter Gesichter, jedes Jahr am Abend des zehnten Novembers, mit dem kindlichen Wunsch, am nächsten Tag in der Schule sagen zu können: „Ich habe gestern Abend die meisten Süßigkeiten gesammelt.“ In einer dicken Jacke, dicken Stiefeln und meinen Handschuhen, die das für die Süßigkeitenbeute unerlässliche Säckchen gewissenhaft festhielten, verfolgte ich selbst diese Tradition, bis ich etwa 14 Jahre alt war.

Ab dem 13. oder 14. Lebensjahr war es meinem pubertierenden Ich zu peinlich, für Süßigkeiten vor den Türen der Häuser meines Dorfes zu singen. Glücklicherweise war mein kleiner Bruder zu dem Zeitpunkt gerade vier Jahre alt, sodass ich als Großer Bruder die Ausrede erfand, dass ich das ja nur für ihn tat, da er noch zu klein sei, um allein um die Häuser zu ziehen. Ich denke, beim letzten Mal war ich im Alter von 16 Jahren, als ich die Süßigkeiten auf meinem Bett ausgebreitet habe, um sie zu zählen und das eine oder andere Bonbon mit meinen Geschwistern zu tauschen.

Inzwischen sollte klar sein, dass ich von der deutschen Tradition des Martinssingens spreche.

Lasst uns nicht so lange steh’n,
Denn wir woll’n noch weitergeh’n.
Hierhin – dorthin
Bis nach Bremen.

Der großzügige Martin

Unweit der norddeutschen Stadt Bremen bin ich in einer Kleinstadt in Niedersachsen, die mehr Dorf als Stadt ist, aufgewachsen. Der Norden Deutschlands ist bekanntlich evangelisch geprägt, weswegen uns der religiöse Hintergrund des Martinstags kaum bewusst war. So ist das vermutlich bei vielen Traditionen sowohl in Kasachstan als auch in Deutschland. Wir verfolgen Traditionen, weil wir damit aufgewachsen sind und unsere Eltern es uns auf eine ganz natürliche Weise vermittelt haben. Und eines Tages werden wir diese Tradition an unsere eigenen Kinder weitergeben.

Ich wusste also nicht, warum wir den Martinstag überhaupt feiern. Dass es einen heiligen und wohl sehr großzügigen Sankt Martin gegeben habe, wusste ich. Dies mit dem Team der deutschen Gesellschaft in Taras zufällig zu besprechen, führte dazu, dass ich zu den Feierlichkeiten des Martinstags eingeladen wurde.

Bewunderung und Inspiration

Es war für mich, dessen letztes Martinssingen nun schon mehr als zehn Jahre her war, eine unfassbar spannende Erfahrung zu erleben, wie der Martinstag innerhalb der deutschen Gesellschaft in Kasachstan vermittelt und auch gefeiert wird. Dafür durfte ich die Kindertagesstätte „Wunderkind“ der deutschen Gesellschaft in Taras besuchen. Angefangen mit Liedern und Gedichten zum Thema Herbst, selbst vorgetragen von den halben Persönchen, hielt bei mir schnell der Geist des Festes Einzug. Ich konnte spüren, dass es allen Anwesenden sehr am Herzen lag, diesen Tag so feierlich wie möglich zu gestalten.

Anschließend betrat der Jugendclub „Juwel“ die Bühne und vermittelte mit einem bilingualen Theaterstück die Geschichte des Sankt Martins. Wie erwähnt, war mir diese Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt nur sehr grob bekannt, weswegen mich die Großzügigkeit einer Figur, die ich bereits mein Leben lang kannte, sehr berührte. Während des Theaterstücks schaute ich im Publikum umher. Die großen Augen der Kinder, die auf die jugendlichen Schauspielerinnen und Schauspieler fixiert waren, drückten eine Sprache der Bewunderung und Inspiration aus. Das wiederum unterstrich die Emotionen der Erwachsenen im Publikum – mich eingeschlossen.

Es folgten Spiele und Tänze, bei denen, so habe ich mir hinterher erklären lassen, selbst Kinder teilnahmen, die sonst deutlich passiver und schüchterner seien. Eine warmherzige Atmosphäre breitete sich im Raum aus, die meines Erachtens ihren Höhepunkt fand, als die Kinder sich auf die Süßigkeitenjagd machten. Natürlich war dies entsprechend meiner eigenen Kindheit mit Emotionen verbunden. Was es in Taras so besonders machte, war, dass die Kinder natürlich nicht wirklich in der Nachbarschaft umherstreifen, zufällig an Türen klopfen, ein deutsches Lied singen und Süßigkeiten erwarten konnten. Dies ist eben eine deutsche Tradition, und neben der deutschen Minderheit kennt die Gesellschaft Kasachstans den Martinstag vermutlich gar nicht.

Traditionen an die junge Generation weitergeben

Die Mitarbeiterinnen installierten in den einzelnen Räumlichkeiten der deutschen Gesellschaft in Taras also Personen, bei denen die Kinder anklopfen, singen und damit nach Süßigkeiten fragen konnten. Während die Kinder also von Klassenräumen über Büros zurück in die Eingangshalle wanderten, wo die Feier stattfand, erfüllte mich ein Gefühl der Nostalgie. Es war so herzerwärmend zu sehen, dass tausende Kilometer von meiner kleinen Stadt in Niedersachsen nahezu die gleichen Kindheitserinnerungen geschaffen werden, wie ich sie erlebte, als ich in jenem Alter war.

Bremen ist ‘ne große Stadt,
Da kriegen alle Kinder ‘was.
Die Großen und die Kleinen
Sonst fang’n sie an zu weinen.

Für uns damals war Bremen ein weites Ziel, wenn es auch nur eine 45-minütige Autofahrt verlangte. Von Kasachstan, geschweige denn von der deutschen Minderheit, hatte ich damals nie etwas gehört. Und so war es umso bereichernder, den Martinstag dieses Jahr auf eine Weise zu feiern, die sich auf den ersten Blick vielleicht stark von allen vorherigen Erfahrungen unterschied, bei genauem Hinsehen jedoch das gleiche Ziel verfolgte: eine wertvolle Tradition als identitätsstiftendes Puzzleteil an die jüngere Generation weiterzugeben.

Also ganz im Sinne des Liedes aus meiner Kindheit, ein zeitloses Gefühl der Zugehörigkeit der Kleinen zu den Großen zu schaffen und allem voran Kinderaugen strahlen zu lassen.

Robin Rehm

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