Der Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989 bedeutete die Wiedervereinigung Deutschlands mit Deutschland und den Zerfall der ehemaligen Sowjetunion. Für mich zählte im Herbst 1989 nur eins: Kann ich jemals so werden wie Lenin?

/Bild: privat. ‚Als 1989 der so genannte real existierende Sozialismus aufhört, real zu existieren, träumt die kleine Irina(rechts) davon, einmal so zu werden wie Lenin.’/

Nowostroika, ein Dorf unweit der heutigen Hauptstadt Astana. Ich blicke konzentriert nach vorn und singe laut und deutlich. Für den besonderen Tag hat Mama mich ordentlich herausgeputzt, weiße Schleifen schmücken mein Haar, auch die Schuhe sind neu. Im sonnigen Schulhof stehen wir in Reih und Glied, heute tragen wir noch keine schwarzen Uniformen, so richtig gehören wir erst morgen zu den Großen. Stolz sind wir aber jetzt schon, überreichen voller Ehrfurcht rote Nelken an unsere zukünftige Klassenlehrerin Galija Kabdyrowna und lauschen andächtig den großen Worten der Schulleiterin. Es ist der erste September 1989, ein erster September wie er sich alljährlich in Kasachstan wiederholt. Das hatte ich bereits bei meiner großen Schwester mitbekommen. Jetzt aber werde ich selbst eingeschult.

Die neue Welt Schule gefällt mir, das Alphabet ist schnell gelernt, auch Rechnen gelingt mühelos. Das wirklich Spannende am Unterricht sind jedoch die Geschichten aus dem Leben des jungen Lenin. Lenin, so lerne ich, war ein Held. Und das nicht erst als Erwachsener; Lenin ist schon als Kind herausragend. Vormittags schrieb er in allen Fächern Fünfen und nachmittags half er Alten und Armen. Selbst seine harmlosen Streiche dienten stets einem guten Zweck. Dieser Lenin, unvergleichlich mutig, selbstlos und klug – so will ich auch sein, denke ich voller Bewunderung.

„Meine Idole bestimme ich fortan selbst“

Roter Platz in Moskau. Wie eine Puppe liegt er da. Mein Idol sieht nicht sonderlich menschlich aus. Papa ist trotzdem begeistert und erklärt meinem kleinen Bruder, wer der Mann da in der Mitte des Mausoleums ist. Ein Aufseher zischt „Psst!“. So richtig Zeit zum Beschauen bleibt nicht, mit dem Besucherstrom bewegen wir uns zügig unter kaltem Licht um seinen offenen Sarg. Wieder draußen bin ich enttäuscht. Lenin ist tot. Es ist September 1992, natürlich ist mein Held schon lange tot. Jetzt ist er aber auch für mich gestorben. Ich weiß nicht warum.
Wenn ich heute „Lenin“ lese oder höre, denke ich zunächst an den bolschewistischen Terror, für den er verantwortlich ist. Auch ist mir klar, dass der Kult um ihn Bestandteil der sowjetischen Staatsdoktrin war und somit der totalitären Verblendung diente. Und dann gibt es da noch diesen anderen Lenin, den Helden meiner Kindheit. Die Welt ist innerhalb meines noch sehr jungen Lebens eine andere geworden. Zum Glück. Lenindenkmäler stehen nun nicht mehr auf den nach ihm benannten Plätzen. Hier und dort hat man sie zwar noch nicht abgerissen. Die Vergangenheit zu bewältigen, sind die Regierenden in den ehemals sozialistischen Ländern dennoch zumindest äußerlich bemüht. So erstrahlen Städte, Straßen und Plätze vielleicht nicht immer in neuem Glanz, tragen dafür aber neue Namen. Die Schlangen vor dem Mausoleum in Moskau werden trotzdem nicht kürzer. Ich weiß nicht, was dort die Besucher aus aller Welt denken, wenn sie Lenins einbalsamierte Leiche betrachten. Ich weiß aber eins: Meine Idole bestimme ich fortan selbst.

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Die Autorin Irina Peter wurde 1983 in Zelinograd geboren und wuchs in Nowostroika auf, wo sie noch drei Jahre die Schule besuchte, bevor sie im September 1992 mit ihren Eltern und zwei Geschwistern nach Deutschland ausreiste. Ihr Abitur legte sie 2003 in Baden-Württemberg ab. An der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg und der Université Sophia Antipolis studierte sie Romanistik, Slavistik und Psychologie. Seit einigen Monaten arbeitet sie mit Landsmännern und -frauen an einem Buch über ihr Dorf in Kasachstan, das die Geschichte der Deutschen dort von deren Ankunft 1936-1946 bis zur Ausreise ab den 1980er Jahren abbilden wird.

Von Irina Peter

03/07/09

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