Jeder Mensch nimmt seine Umwelt anders wahr. Wie wahr! Zum Beispiel meine Mutter. Wenn man mit meiner Mutter unterwegs ist, kann das ziemlich anstrengend sein, da sie sehr mitteilsam ist. Sie kennen das vielleicht, bei der Frauengeneration im angehenden Seniorenalter ein weit verbreitetes Phänomen, jedenfalls geht das meinen Freunden mit ihren Müttern ähnlich.
Alles, was ihnen in den Sinn kommt, muss direkt wieder raus und Silbe für Silbe ausgesprochen werden. Und weil das den lieben langen Tag so geht, dass die Umwelt sich einem aufdrängt, wo man nur geht und steht, gibt es eigentlich niemals eine Pause. Auch für uns zwangsverpflichtete Zuhörer nicht. Sie quasseln und plaudern sie in einem fort, unsere Mütter.
Und so mussten sie verschiedene Aushaltetechniken entwickeln, unsere Väter. Und flüchteten sich in ihre Hobbykeller, zu den Angelteichen, in ihre Stammkneipen, in die Fußballstadien und die innere Einkehr a. Was gar nicht so leicht ist, wie ich feststellen muss. Zuletzt habe ich wieder eine mehrstündige Trainingseinheit absolviert, als mich meine Mutter zu meinem Auto in der Pampa fuhr. Auf der Strecke gab es viel zu entdecken, wie es schien. Jedenfalls arbeitete es stark in den Sinnen meiner Mutter. Ich versuchte, auf Durchzug zu schalten. Ging nicht. So müde ich war, so genervt war ich, aber auch beeindruckt davon, was meine Mutter und damit auch ich alles über die Gegend erfuhr.
Während ich dumpf vor mich hinstarrte, diffus und ohne Ergebnis und Ziel sinnierte und nur in einzelnen unzusammenhängenden Wörtern dachte, wie „Hunger“. „Schön hier“ oder „müde“, analysierte meine Mutter in Sekundenschnelle das komplette Umfeld: Wie ist die Gegend entstanden? Welches Gestein bildet hier die Grundlage? Wie sind die Häuser gebaut, welcher architektonische Stil hat sich durchgesetzt? Wie ist die Infrastruktur? Was haben die Menschen, die hier wohnen? Aha, eine Bank, eine Apotheke, sogar ein Krankenhaus, die Einzelhandelsstruktur ist auch differenziert. Wie ist das gastronomische Angebot? Und wie hoch sind die Benzinpreise? Einen Teil davon will sie sich und soll ich mir merken, falls es uns mal wieder in diese Gegend verschlägt. Was eher unwahrscheinlich ist. Aber trotzdem, das nächste Mal weiß man Bescheid.
Ich rechne hoch: Es ist davon auszugehen, dass sie das nicht ausnahmsweise, sondern sicher in jedem zweiten Ort betreibt, den sich durchfährt, was heißt, dass sie ganz schön viel Wissen angesammelt hat, Chapeau! Ich würde zwar trotzdem lieber sinnieren und mich in meinen Schnitzelträumen verlieren als an ihrem Wissen partizipieren, aber ich frage mich ernsthaft, warum ich diese Gabe nicht geerbt habe, dann wäre mir mein Geographiestudium wesentlich leichter gefallen. Was sich bei meiner Mutter wie von allein in Blitzschnelle abspielt, bedeutete für mich stets ein mühseliges detektivisches Zusammenklauben von Hinweisen: Hügel, tja na ja, schön sind sie ja, aber wo kommen sie her? Na egal, Hauptsache, es gibt hier Schnitzel!
Julia Siebert
25/09/09