Über den Film „Hannah Arendt“, seine mögliche Rezeption und die zeitgenössischen Tendenzen der „Banalität des Bösen“, die moderne Alltagsstrukturen im Leben eines jeden “banalen“ Bürgers, ob Staatsdiener oder Privatperson, zu beherrschen scheint.

Am vergangenen Freitag zeigte das Goethe-Institut Almaty den 2012 erschienen Spielfilm „Hannah Arendt“, ein Spätwerk der renommierten Berliner Regisseurin Margarethe von Trotta. Herausragende Frauen der Geschichte sind ein wiederkehrendes Thema im Wirken von Trottas („Rosa Luxemburg“, 1986, „Vision – Aus dem Leben der Hildegard von Bingen“, 2009), und so erlebt der Zuschauer Hannah Arendt als mutige, trotz aller Widrigkeiten lebensfrohe, aber auch verletzliche Kämpferin für ihre Ideen. Der Film ist ein sehenswertes Porträt, aber beschränkt sich auch darauf. Es lohnt sich, nach der Bedeutung Arendts für unsere Welt, für Deutschland und Kasachstan zu fragen.

Martin Schäfer

Hannah Arendts Verdienste um die politische Philosophie stehen außer Frage, ihr Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 in Deutsch erschienen), in dem sie Parallelen der Herrschaftssysteme Hitlers und Stalins herausarbeitete, ist bis heute aktuell. In einer Zeit, in der die Bilder der Leichenberge von Ausschwitz lebendig waren, Israel um sein Überleben kämpfte und so mancher Intellektuelle die aufstrebende Sowjetunion bewunderte, war eine solche Arbeit bahnbrechend. Und das umso mehr, als die deutsche Jüdin Hannah Arendt selbst vor den Nationalsozialisten hatte fliehen müssen.

Vor diesem Hintergrund stand 1961 der SS-Bürokrat Adolf Eichmann, eine zentrale Figur in der Organisation der Vernichtungslager, in Jerusalem vor Gericht. Hunderte Zeugenaussagen ehemaliger Lagerinsassen, nur knapp dem Mord entkommen, entsetzten die Welt. Eichmann aber schien unberührt, berief sich auf Befehle „von oben“, wollte keine juristische Schuld anerkennen. Als Reporterin war Hannah Arendt mit dem Täter im Gerichtssaal, doch war es seine scheinbare Profillosigkeit, die sie schockierte und auf der die spätere Formel der „Banalität des Bösen“ fußt? Ihre Thesen werden bis heute kontrovers diskutiert, immer steht die Frage im Raum, ob sie als Nichtbetroffene den Holocaust verstünde und ob Eichmann nicht bewusst als „Wolf im Schafspelz“ auftrat (siehe dazu die Beiträge von David Cesarani, Avner Werner Less und Bettina Stagneth).

Doch welche Bedeutung hat diese historische Debatte für uns, in Deutschland, in Kasachstan?
Ob „banal“ im Sinne Arendts oder nicht, Böses manifestiert sich erst im Handeln und ist schwerlich an Charakter– oder Kultureigenschaften gebunden. Wie sonst kann man die Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges erklären, die Deportationen auch nach Kasachstan, den Kulturkampf in China, die Securitate in Rumänien, Ruanda und Srebrenica, den Islamischen Staat? An Beispielen aus allen Epochen und Regionen mangelt es nicht. Sind die Verantwortlichen, die Helfer, die korrumpierten Diener der Macht wirklich anders als wir? Braucht es wirklich eines totalitären Regimes, wie Arendt es postulierte, um den Mensch zu entmenschlichen, vom Glauben an individuelle Verantwortung abzubringen? Überschätzen wir nicht die Fähigkeit des Menschen zum individuellen ethischen Urteil, ist die Goldene Regel obsolet?

Wir verdrängen gerne, dass unzählige Täter sich problemlos in ihre und andere Gesellschaften einfügen, dass KZ-Ärzte und NKWD-Kommissare auch liebende Ehepartner waren, dass der korrupte Verkehrspolizist nicht zugleich Ladendieb und Trickbetrüger ist, dass selbst ein Terrorist wie Omar Saeed Sheikh für seine Zivilcourage ausgezeichnet worden war: als achtzehnjähriger rettete er einen Mann in letzter Sekunde von den Gleisen der Londoner U-Bahn.

Der Unterschied zwischen diesen Tätertypen und den geläufigen Typen der Affekttäter oder den selteneren Sozio– und Psychopathen wird in drei Aspekten deutlich: Norm, Ort und Sanktion. Ob korrupter Polizist oder KZ-Arzt, alle betrachten ihr Handeln als gerecht. Sei es durch eine Gesellschaft, die Korruption als normal akzeptiert, durch einen Kollegenkreis, der sich gegenseitig deckt und ermutigt… Die Norm der Bezugsgruppe muss nicht einmal mit der derer der Gesamtgesellschaft übereinstimmen, sie kann dieser sogar entgegenstehen. „Blut ist dicker als Wasser“ heißt es. Gleichsam können die Wertvorstellungen einer reellen oder sogar imaginären Bezugsgruppe alle Gegenentwürfe verdrängen.

Ebenso erscheinen nicht affektgebundene, nicht soziopathische Verbrechen an Orte gebunden, an denen die Normen der jeweiligen Bezugsgruppe überwiegen. Alle Arten nichtöffentlicher Räume, von homogenen Gruppen kontrolliert, unterstehen der gefühlten Herrschaft einer Gruppennorm. Daher sind Gefängnisse, Lager und Kriegsgebiete, aber auch Internate und Kasernen prädestiniert für Misshandlungen. Aber auch gesamtgesellschaftlich legitimierte Hinrichtungen, Hadd-Strafen und ähnliche historische Bestrafungen, alles im Grunde Tötungen und Verstümmelungen, werden nicht wahllos und an beliebigen Orten vollstreckt. Ihnen gemeinsam ist, dass die Täter bzw. Henker sich im öffentlichen Raum nicht auffälliger als andere auch bewegen und keinesfalls besondere kriminelle Energie zeigen.
Diese Unauffälligkeit, unsere scheinbare Zivilisierung, hat ihren Preis. Sanktionen als Bestrafung von Normverstößen existieren in allen bekannten Gesellschaften und Religionen, was auf ihre Notwendigkeit zur Erhaltung eines Gemeinwesens hinweist. Fehlen sie, greifen die Normen kleinerer Gruppen, und es kommt zu Phänomenen wie Blutfehden oder Brautrauben. Beides Praktiken, die den jeweiligen staatlichen wie religiösen Ordnungen entgegenstehen. Blut ist dicker als Wasser. Sogar Individualnormen können relevant werden, falls sich ihnen Platz bietet: die Maxime lautet dann „Gerecht ist, was ich für gerecht halte“.

Angesichts der Universalität auch abscheulichster Verbrechen muss man sich fragen, wie wirkungsmächtig die Goldene Regel tatsächlich sein kann. Und: Wenn Normen, Orte und Sanktionen ausreichende Bedingungen selbst für die abscheulichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte waren – ist der von Arendt untersuchte Einfluss des Totalitarismus dann noch wichtig?

Unabhängig davon, wie Sie zu dieser Frage stehen: die Dämonisierung von Verbrechen und Verbrechern allein reicht nicht aus, „das Böse“ zu erklären oder zu verhindern. Zu viel organisierte Grausamkeit nach Ausschwitz hätten sonst nie geschehen dürfen.

Die Verteufelung und Überhöhung von soziopathischen Personen wie Hitler, Stalin oder auch Charles Manson ist attraktiv, sie gruselt, aber sie verdeckt den Blick auf die tatsächlich Ausführenden, die Eichmanns, ohne die es keinen Holocaust gegeben hätte. Vielleicht zeigt die gemeinsame Handlungslogik von korrupten Polizisten wie Folterknechten, dass das Böse noch „banaler“ ist, als Arendt dachte. Das hieße aber auch, dass es noch näher an uns ist, als wir glauben.

Martin Schäfer ist seit Sept 2014 Robert Bosch Lektor an der Deutsch-Kasachischen Universität im Studiengang „Internationale Beziehungen (BA)“. Der gebürtige Saarländer hat Politikwissenschaft und –Management in Bremen und Brüssel studiert. Seine Schwerpunkte sind Deutsche Geschichte, Wissenschaftliches Arbeiten, Politik und Gesellschaft Deutschlands. Als Politikwissenschaftler und Schachspieler verfügt er über ein analytisches Gespür, was nicht zuletzt in der hier publizierten essayistischen Auseinandersetzung sichtbar wird.

Martin Schäfer

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