Die Architektur der stalinistischen Nachkriegszeit wird heute noch verächtlich als Zuckerbäckerstil bezeichnet. Markantestes Merkmal waren und sind die hoch aufragenden Türmchen und Turmspitzen. Diese gab es aber schon lange vor Stalin schon in Europa – und nach dem Ende der Sowjetunion kamen sie in Kasachstan wieder in Mode.

Wer den „Alten Platz“ in Almaty besucht – bzw. Astana-Platz oder Platz der Hauptstadt, wie er seit einigen Jahren heißt –, wird unweigerlich auf einen gewaltigen Prunkbau im Zentrum des Platzes stoßen. Der riesige Bau wurde 1957 fertiggestellt und beherbergte seinerzeit bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion die Regierung der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Neben diesem massiven Gebäude, welches den Platz bis heute dominiert und alles überragt, gibt es allerdings noch eine Menge anderer interessanter Architektur hier zu bestaunen.

Als Alma-Ata 1929 schließlich zur Hauptstadt der kurz zuvor neu gegründeten Kasachischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik wurde, wurden eine Reihe neuer Verwaltungsgebäude und Infrastruktur benötigt. Die ersten Gebäude, die im Zuge der Neugestaltung des Stadtzentrums rund um den „alten Platz“ entstanden, der von nun an das Verwaltungsviertel der Stadt sein sollte, wurden noch dem Zeitgeist entsprechend im Stil einer ersten Welle des Modernismus und Konstruktivismus erbaut. Josef Stalin allerdings, der ab 1927 die Geschicke der Sowjetunion mit harter Hand lenkte, befahl die schrittweise Abkehr von solchen Experimenten in Kunst und Kultur. Der sozialistische Realismus in den bildenden Künsten bzw. der sozialistische Klassizismus in der Architektur wurden zur bestimmenden Kunstform in der Sowjetunion erhoben.

Stalin-Bauten nach Vorbild des europäischen Mittelalters?

Als Josef Stalin 1953 starb, war die Neugestaltung des Alten Platzes noch immer nicht abgeschlossen. Das gewaltige Gebäude der Regierung der Kasachischen SSR wurde erst 1957 fertiggestellt. Nur ein paar Jahre zuvor entstand an der Ostseite des Platzes noch ein weiteres repräsentatives Verwaltungsgebäude, das Gebäude der Kasachischen Verbraucherunion. Das von den Architekten B. Stesin und G. Bobowitsch erdachte Eckgebäude kommt weit weniger wuchtig und wesentlich eleganter daher als der freistehende Bau der Regierung der Kasachischen SSR.

Die Architekten bedienten sich hierbei eines Kunstgriffes, welcher bei vielen Gebäuden der stalinistischen Nachkriegsarchitektur angewandt wurde. Der fünfstöckige, achtseitige Turm, der zentrale Blickfang des Eckbaus, ist gekrönt von einer steil nach oben aufragenden Turmspitze. Es waren solche kleinen Architekturdetails, die der späten stalinistischen Architektur verächtlich den Namen Zuckerbäckerstil einbrachten. Diese hoch aufragenden Türmchen und Turmspitzen sollen ihren Ursprung übrigens im Städtebau des europäischen Mittelalters haben. Auf alten Holzstichen von Stadtpanoramen sind diese steilen Türme, die den gotischen Städtebau bestimmten, noch heute gut zu erkennen.

Komplette Neuinterpretation von Stalin-Hochhäusern

Das Gebäude der Kasachischen Verbraucherunion wurde zwischen 1953 und 1955 errichtet. Der Kunstgriff des steilen Türmchens ist auch noch auf anderen Gebäuden der Stadt aus dieser Architekturperiode zu finden, so zum Beispiel auf dem alten Terminal des Flughafens Almaty, auf dem Wohnhaus der Turksib-Arbeiter oder auf dem Hauptgebäude des Kasachischen Instituts für Management, Wirtschaft und Prognostizierung. Selbst heute werden neue Gebäude gerne wieder mit Spitzen im Stile der Stalinarchitektur ausgestattet, in Nur-Sultan existiert mit dem Wohnkomplex „Triumph von Astana“ gar eine komplette Neuinterpretation eines der berühmten Stalin-Hochhäuser aus Moskau. Was hiervon zu halten ist, bleibt allerdings dem Betrachter selbst überlassen. Unter vielen Kasachen aber scheint sich solcher Kitsch des Baubooms der 1990er und 2000er Jahre großer Beliebtheit zu erfreuen.

Dies sah Nikita Chruschtschow, der Mann, der Josef Stalin an der Spitze der UdSSR beerbte, wohl nicht ganz so. Denn auch er forderte erst zögerlich, schließlich aber mit Nachdruck eine Abkehr vom Prunk und Protz der Stalinjahre. Chruschtschow war ein einfacher Mann des Volkes. Er etablierte den großflächigen Wohnungsbau. Seine sogenannten Chruschtschowki, fünfstöckige, schmucklose Wohnhäuser mit einfachster Ausstattung, bestimmen noch heute die Wohnviertel vieler ehemals sowjetischer Städte. Auch das Gebäude der Kasachischen Verbraucherunion steht heute noch an Ort und Stelle. In den oberen Stockwerken sind Wohneinheiten untergebracht, das Erdgeschoss ist für Geschäftsräume vermietet.

Philipp Dippl

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