Etwa sechs Millionen russischsprachige Menschen leben in Deutschland. Unter ihnen sind die Russlanddeutschen die größte Gruppe. Dennoch herrscht in Deutschland großes Unwissen darüber, wer die Russlanddeutschen überhaupt sind und warum sie hier leben. Oft werden sie einfach als Russen verstanden.

In der Sowjetunion hingegen mussten sie als Deutsche als Zielscheibe für die Vergeltung gegen den Nazismus herhalten. Zwei Weltkriege, in denen Deutschland zum Hauptfeind wurde, schürten enormes Misstrauen gegen die deutsche Bevölkerung. Repressionen verschärften sich immer weiter, insbesondere nachdem Hitler im Juni 1941 den Nichtangriffspakt mit Stalin brach und die Sowjetunion überfiel.

Die deutsche Identität wurde einem zum Verhängnis. Im Zuge der Zwangsdeportationen von Millionen Deutschen nach Sibirien und Kasachstan verloren etliche Russlanddeutsche die Spur zu ihren Verwandten auf ewig. In ihre Heimatgebiete durften die Deutschen nie wieder zurück. Sie gingen für sie auf immer verloren, und somit auch ein Teil der Identität.

Ende der Wolgarepublik
Alexander Wormsbecher: „Wir im Jahr 1941“.

Diese Erfahrungen lehrten die Russlanddeutschen, dass in Krisenzeiten Angst und Hass sich als erstes gegen Minderheiten richten. In der Nachkriegszeit mussten deutsche Kultur und Identität hinten anstehen. Anpassen war vorrangig, denn die Angst vor erneuten Verfolgungen und Repressionen blieb. Für viele Russlanddeutsche war es daher unabdingbar, eines Tages nach Deutschland zurückzukehren. In den 90er Jahren, als die Sowjetunion zerfiel, wurde die Ausreise nach Deutschland endlich vereinfacht. Russlanddeutsche strömten in Massen in die lang ersehnte Heimat.

Dort angekommen, mussten sie jedoch feststellen, dass die Zeit in Deutschland nicht stehen geblieben ist. Wieder waren die Russlanddeutschen die Anderen. Diese erfahrene Ausgrenzung in Deutschland stellte die Identität der Russlanddeutschen erneut in Frage. Mir selbst fiel es schwer, meine eigene Identität zu verstehen. In der Schule, unter anderen Deutschen, war ich nicht Deutsch. Auf meine Fragen am Familientisch, auf dem Hunderte Pelmeni und eingelegter Möhrensalat auf einer geblümten Spitzendecke lagen, wurde aber immer wieder betont, wir seien Deutsche. Keine Russen. Über Familiengeschichten wird aber kaum geredet. Die Vergangenheit ist oft zu schmerzhaft und die Spuren zu verworren.

Dabei ist das Verstehen der russlanddeutschen Geschichte wesentlich. Die russlanddeutsche Identität hängt daran. Mangelndes Verstehen der eigenen Geschichte wird wie ein Krebs an der russlanddeutschen Gesellschaft nagen. Angesichts des Krieges in der Ukraine haben sich bereits bestehende Spaltungen in russlanddeutschen Familien vertieft. Mit russisch-deutschen Beziehungen an einem neuen Tiefpunkt sind viele Russlanddeutsche zwischen zwei Welten zerrissen.

Für die Russlanddeutschen könnte es kaum etwas Wichtigeres geben, als die eigene Geschichte aufzuarbeiten. Denn wie Wilhelm Humboldt sagte: „Ein Volk, das seine Geschichte nicht kennt, hat keine Zukunft.“

Der Gedanke hinter diesem Zitat war für meinen Urgroßvater, David Wick, der Antrieb, seine Lebenserfahrungen als Russlanddeutscher in einem Buch niederzuschreiben.

Unsere Geschichte, die Geschichte der Russlanddeutschen ist eine von den nicht leichtesten, sie ist dramatisch. Die junge Generation aber muss wissen, wer wir Deutsche in Russland waren und was wir durchgemacht haben.“ – David Wick

Für mich ist das Buch meines Urgroßvaters die Inspiration für eine Reise durch Kasachstan gewesen; durch etliche Orte, in denen sich seine Geschichte über Jahrzehnte abspielte. Auch hoffte ich, Antworten zu meiner eigenen Identität zu bekommen.

Heimat in Nordkasachstan (1916 – 1939)

Mein Urgroßvater wuchs in einem kleinen, deutschen Dorf namens Nowo-Usenka im Norden Kasachstans auf. Seine Erzählungen über seine Kindheit und Jugend strotzen von einer Wärme, einem Gefühl von Heimat, wie kein anderes Kapitel in seinem Buch. Und dennoch sind die Zeiten, von denen er schreibt, schwere Zeiten. Hungersnot nach Hungersnot überfällt Kasachstan. 1921 im Zuge des russischen Bürgerkrieges und in späteren Jahren, verursacht durch Stalins Zwangskollektivierung.

Das Leben war schwer, aber es gab Hoffnung.

Wir lebten arm, waren schwach gekleidet. Jeder Bissen wurde mir im Mund gezählt und vorgehalten, musste immer die abgetragene Kleidung tragen. Aber für das versprochene, glückliche und gerechte Leben auf dieser Erde waren wir bereit, beschränkt und knapp zu leben. Wir waren völlig überzeugt, dass unsere ehrliche, begeisterte, begierige Arbeit, unser Fleiß im Lernen mit dem versprochenen Himmelreich belohnt wird.“ – David Wick

Meine Vorfahren, wie viele Russlanddeutsche, stammen aus dem Wolgagebiet in Russland. Viele der Wolgadeutschen wurden unter dem Vorwurf, mit Nazideutschland zu kollaborieren, ab dem 28. August 1941 deportiert. Einige, unter ihnen meine Vorfahren, siedelten aber schon früher nach Kasachstan um. Denn das Ackerland an der Wolga wurde immer knapper, sodass der russische Premierminister Stolypin 1906 ein Manifest zur Neulanderschließung erließ.

Nach der Bodenreform des Zarenministers P.A. Stolypin vom 9. November 1906 übersiedelten unsere Eltern per Achse mit allem Hab und Gut in die unbewohnten, menschenleeren Steppen, um Rettung vor Hunger zu suchen. Sie machten das Land fruchtbar, pflanzten Obst und Gemüse. So kamen unsere Vorfahren von Deutschland bis nach Kasachstan.“ – David Wick

Mehr als ein Jahrhundert, nachdem mein Urgroßvater in dem kleinem Dorf Nowo-Usenka geboren wurde, holperten wir mit dem Auto über menschenleere Landstraßen mit tiefen Schlaglöchern. Begleitet wurde ich von Rimma und Anastasiya, zwei Mitarbeiterinnen der Deutschen „Wiedergeburt“ in Nordkasachstan. Ringsum bildeten endlose Ackerfelder, Wälder und Seen ein friedliches Panorama wie aus einer anderen Zeit. Die Straße wurde immer holpriger, als wir uns Nowo-Usenka näherten.

Dann auf einmal lag es vor uns – ein Dorf, gegründet von Deutschen, die aus der russischen Region Nowo-Usensk von der Wolga mit Hoffnung auf ein besseres Leben hierhin siedelten.

Alles war in Trümmern. Das Dorf war verlassen. Der sanfte Frühlingswind wehte durch die leeren Straßen. Gräser und Bäume wucherten über die alten Bauten. Vor vielen Jahren spielte sich auf diesen Straßen ein reges, doch schweres Leben ab. Eine der ersten Erinnerungen meines Urgroßvaters in Nowo-Usenka stammt aus dem russischen Bürgerkrieg.

In den Jahren des Bürgerkriegs war es doch sehr interessant zu gucken, wie dort auf der Strasse geschossen wurde. Es kamen die Weißgardisten, nahmen den Bauern alles weg und fuhren weiter. Dann kamen die Roten. Dann wieder die Weißen. Der Reihe nach nahmen sie den Bauern alles weg, Pferde, Kühe, Schweine, Nahrung, Kleidung. Sie suchten in allen Ecken, mit Brecheisen und Spießen, in der Scheune, im Keller, auf dem Dachboden, spießten Matratzen und Kissen auf. Alles im Hause wurde durcheinander geworfen, und der Bauer wurde bis auf das letzte Hemd ausgezogen. Der Bürgerkrieg breitete sich wie ein Krebsgeschwülst aus.“ – David Wick

Die Jahre nach dem Bürgerkrieg ließen die Menschen in Nowo-Usenka aufatmen. Die Ernten waren gut, Essen gab es in Hülle und Fülle. Es schien, als hätten sich die schweren Zeiten und die Arbeit ausgezahlt. Aber das Glück war kurzzeitig und ging genauso schleichend, wie es kam.

Im Jahre 1929 beschloss Stalin, das Kulakentum zu vernichten. Die Zwangskollektivierung begann, und jedes Korn wurde zum Besitz der Sowjetmacht.

Die Bevollmächtigten unseres Rayonkomitees haben sämtliches Getreide fortfahren lassen, bis auf das letzte Körnchen. Nicht einmal den Samen für die Aussaat haben sie zurückgelassen. Wenn einer sich weigerte sein Getreide abzugeben, wurde an sein Haus ein Brettchen mit der Aufschrift ‚Hier wohnt ein Feind der Sowjetmacht‘ angesetzt.“ – David Wick

Zu dem Zeitpunkt versprach Stalin, dass die Sowjetunion in wenigen Jahren einer der brotreichsten Staaten der Welt sein wird. Das Gegenteil trat ein. Eine dramatische Hungersnot erfolgte 1932/33. Zwischen fünf und sieben Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer. Die meisten Opfer zählten die Ukraine, Kasachstan, das Wolgagebiet und der Nordkaukasus.

Vor Hunger wahnsinnig gewordene Frauen, Männer und Kinder stürmten die Getreidespeicher, verlangten ihr abgenommenes Brot zurück. Die Bevollmächtigten schossen auf die Hungrigen. Aufständische Bauern wurden weggesperrt. Das Brot wurde eingeladen.

Die Menschen nagten am Hungertuch und fristeten ein elendes Hungerdasein. Den ganzen Tag saßen wir unbeweglich, bestrebt sich weniger zu bewegen und keine Kraft zu verschwenden. Ich selbst war einem Skelett ähnlich, ausgezehrt. Mein kleiner Bruder saß oft vor dem Haus und aß grünes Gras. Das Vieh konnte auch niemand mehr futtern, sie verreckten fast alle. Verrecktes Vieh wurde von den Dorfbewohnern für eine Delikatesse gehalten, an dem die Menschen ihren Heißhunger stillten. So waren die Verhältnisse in unserer Kindheit und trotzdem mussten wir sagen: ‚Wir danken dir, Genosse Stalin, für unsere glückliche Kindheit.‘“ – David Wick

Nun stand ich auf dem Boden, wo so viel Leid geschah, und den mein Urgroßvater trotzdem Heimat nannte.

Hier, in Nordkasachstan, in den öden, menschenleeren Steppen, wo in grauen, seidigen Wellen das Federgras wogte, und die Wölfe Wolfskonzerte veranstalteten, hier war mein Heim.“ – David Wick

Ein Denkmal im kasachischen Petropawl erinnert an die Opfer politischer Repressionen.

In dieser Heimat konnten meine Vorfahren ihre deutsche Identität noch ausleben. Bis sie eines Tages nicht mehr bleiben durften. Die Zeit der Masseninhaftierungen, der Deportationen und der Zwangsarbeit begann. Jeder, der deutsch war, war automatisch schuldig.

„Man sieht, dass es ein deutsches Dorf war. An den geraden Straßen und der Art von Häusern,“ erzählt mir Anastasiya, als ich durch die alten Straßen schlenderte.

Eine alte, zerfallene Schule stand vor uns. Hier lernte mein Urgroßvater schreiben und lesen. Heute gibt es hier kein Leben mehr. Für mich hat es etwas Friedliches, Nostalgisches, die Natur über Nowo-Usenka wuchern zu sehen. Die Geschichte der Deutschen hier ist zu Ende gekommen.

Grauen in Karaganda (1939 – 1956)

Der nächste Stopp auf meiner Reise war Karaganda, Kasachstans Gulag-Herzland.

Einst eine Quelle sowjetischen Stolzes, verdankte die Region ihren Status als einer der größten Kohleproduzenten der UdSSR dem Blut und Schweiß der in den Gulag-Minen arbeitenden „Feinde“ des Sowjetregimes. Das Strafarbeitslager KarLag war ein riesiges Gulag-System, das eine Fläche in etwa der Größe des heutigen Frankreichs umfasste.

Der Kulturpalast der Bergarbeiter in Karaganda erinnert noch heute daran, dass in den GuLags der Region nicht nur Soldaten und Kriegsgefangene einsaßen, sondern auch Intellektuelle und Künstler.

Vorgestellt habe ich mir Karaganda immer wie ein Grauen, hässlich wie seine Vergangenheit. In Wirklichkeit ist Karaganda heute eine grüne, lebendige Stadt.

Gedenkstein mit Zitat von Heinrich Vogeler in Karaganda, Kasachstan

Karagandas Wachstum als Stadt konnte zum Großteil auf die Deportationen von Deutschen zurückgeführt werden. Nachdem Hitler die Sowjetunion überfiel, sah Stalin eine Gelegenheit, das seit langem bestehende „deutsche Problem“ zu lösen, indem er am 28. August 1941 die Vertreibung aller ethnischen Deutschen anordnete. Es wurden schätzungsweise eine halbe Million Deutsche deportiert.

Die offizielle Erklärung lautete, die Deutschen hätten das Nazi-Deutschland aktiv unterstützt. Hierfür gab es nie Beweise. Die Wolgadeutsche Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) bildete sogar eine eigene Miliz im Kampf gegen Nazideutschland. Mein Urgroßvater selbst diente zu dieser Zeit in der Roten Armee und bereitete sich auf den Krieg gegen Deutschland vor. Doch dann endete alles anders.

Uns Soldaten wurde gesagt, der Krieg mit Deutschland sei unvermeidbar. Wir bereiteten uns vor. Doch als uns bekannt wurde, dass Hitler die Sowjetunion treubrüchig überfiel, fühlten ich und meine deutschen Kameraden ein Misstrauen uns gegenüber. Gelagert wurden wir in einem Waggon, unser Zug rollte gen Westen. Wir waren der Meinung, es gehe an die Front. Solch eine Hoffnung hegten wir noch damals. Doch dann ging es in die andere Richtung.

Als wir ankamen, hörten wir zum ersten mal das grausame, drohende Kommando: ‚Einen Schritt nach rechts oder links gilt als Fluchtversuch und es wird geschossen!‘

Wir standen in Verwirrung da. Aus welchem Grund sind wir verhaftet? Man schrie auf uns los: „Still da! Im Gleichschritt vorwärts Marsch!“ Und so kamen wir in das Konzentrationslager, weil wir Deutsche waren.“ – David Wick

In 1.607 Tagen Haft kam mein Urgroßvater dem Tod mehrmals nahe. Einigen Menschen verdankt er sein Leben. Ohne deren Hilfe wäre auch meine Großmutter nie geboren worden.

In KarLag errichtete mein Urgroßvater einen Kohlenbergbau, wo heute der Stausee Fjodorowskoe liegt.

Schwach, matt, heißhungrig und zerlumpt wurden wir von einem Gulag in das nächste geliefert. Wir wurden in Viehwaggons getrieben, welche mit grossen Schlössern verriegelt worden sind. Am ersten Mai 1943 kamen wir an der Station Bolschaja Michailowka in Karaganda an. Hier sollten wir einen Kohlentagebergbau errichten.Wir schlugen unsere Zelte auf, zimmerten Pritschen, umzäunten unser eigenes Lager mit Stacheldraht. An Stacheldraht litten wir keinen Mangel.“ – David Wick

Jetzt fuhr ich im Taxi an den Stausee, unter dem der ehemalige Kohlenbergbau liegt. Heute genießen Einheimische an den kleinen Stränden des Sees die Aussicht mit ihren Liebsten. Als ich an einem der kleinen Strände saß, fühlte ich mich mulmig. Ich kam nach Kasachstan, um meine Herkunft und Identität besser zu verstehen. Dieser Ort aber fühlte sich nicht wie ein Zuhause, wie meine Herkunft an. Hier geschah nichts als Leid. In diesem Moment fühlte ich mich entwurzelter denn je.

Alle arbeiteten tags und nachts, ohne Ruhe und Festtage, im Sommer wie im Winter, bei drückender Hitze, Schnee oder Regen. Oft waren wir nass bis auf die Haut. Die zerfetzte Kleidung zu trocknen war nicht möglich, und sie erstarrte bei klirrender Kälte. Wir froren bis auf die Knochen.

Der verfluchte, unerträgliche Hunger gab niemandem Ruhe. Wir hatten zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Ich selbst sah wie andere Trudarmisten starben, konnte ihnen aber nicht helfen. Auf dem Friedhof durften sie nicht beerdigt werden. Dies waren doch Faschisten und Verräter. Ohne Tränen kann man sich an diese Zeit nicht erinnern.“ – David Wick

In meiner Hand hielt ich einen kleinen Blumenstrauß, den ich hier in Erinnerung an meinen Urgroßvater niederlegen wollte – als Dankeschön für seinen Willen, ohne den ich heute nicht hier wäre.

Als ich dort am Stausee saß, fiel mir auf, dass unsere russlanddeutsche Identität nicht an einen Ort gebunden ist. Unsere besondere, leidvolle Geschichte – eine Geschichte, die von Hoffnung, Suche, Verlust und Verfolgung erzählt – macht unsere Identität aus. Heute haben wir unser Zuhause in Deutschland, aber unsere Geschichte bleibt für immer ein Teil von uns.

Den Bezug zu unserer Geschichte zu bewahren ist notwendig, um eine Wiederholung der Geschichte nicht zuzulassen. Die Zahl der Gulag-Toten in der UdSSR wird auf etwa 1,2 bis 1,7 Millionen geschätzt – eine enorme Zahl. Unter Berücksichtigung der Todesfälle, durch andere stalinistische Repressionen wie Hungersnöte, Hinrichtungen und Deportationen verursacht, so rechnen die Wissenschaftler mit etwa 20 Millionen Opfern.

Die Geschichte geht immer noch zu freundlich mit Stalin um. Und heute häufen sich Berichte von Straflagern in Russland erneut.

Durch die Steppe nach Balchasch (1956-1991)

Die Steppe in Kasachstan scheint endlos. Auf der Zugfahrt nach Balchasch, dem Ort in dem meine Mutter geboren ist, verändert sich die Landschaft kaum. Kilometerweit ist keine Zivilisation in Sicht.

In diese Steppe wurden damals hunderttausende Sowjetdeutsche verbannt. Ausgesetzt wurden die Deportierten im Nirgendwo, ohne Hab und Gut, oft mitten im Winter. Hier überlebt es sich nur schwer. Die Winter sind eisig, der Boden kaum fruchtbar und die Entfernungen gewaltig. Schutz vor Wind, Sonne und Schnee gibt es nicht. Viele der Deportierten kamen in der neuen Umgebung ums Leben.

Auch viele meiner Verwandten wurden in diese Steppe deportiert. Mehrere Jahre lebten sie in Erdlöchern und kämpften tagtäglich ums Überleben. Erst nach Abschaffung der Kommandaturwache konnten sie nach Balchasch ziehen und sich dort ein neues Leben aufbauen.

Für uns, Russlanddeutsche war Kasachstan zugleich Verbannungs- und Zufluchtsort. An diesem Ort wurden wir zum Sterben verbannt. Aber es war auch ein Ort, wo wir es schafften, zu überleben. Oft dank der einheimischen, kasachischen Bevölkerung.

Nach dem zweiten Weltkrieg verbesserte sich das Leben in der Sowjetunion für Deutsche erst nur sehr langsam. Über zehn Jahre lebten sie unter der Kommandaturwache. Ihr Arbeitsplatz und Wohnort wurde vom Staat zugewiesen. Als die Kommandaturwache 1956 endete, wurde das Leben für die deutsche Minderheit erheblich einfacher.

Mein Urgroßvater wählte freiwillig aus, in Balchasch zu leben. Dort fand er eine Arbeit als Deutschlehrer und konnte seiner Familie bessere Lebensbedingungen ermöglichen. In dieser Zeit der Aufatmung hat mein Urgroßvater angefangen, seine Erfahrungen als Russlanddeutscher niederzuschreiben.

Alles was lange Jahre in mir brodelte: Erniedrigungen, Beleidigungen, Hunger, Not, Verleumdungen will ich jetzt aussagen. Groß war das Leid des Zweiten Weltkrieges. Und weil geteiltes Leid nur ein halbes Leid ist, möchte ich es jetzt mit den Lesern teilen.“ – David Wick

Obwohl die Zeiten einfacher waren, sehnten sich meine Urgroßeltern immer nach der deutschen Heimat.

Für uns Deutsche gibt es hier keinen Platz mehr. Wir sind und bleiben immer die Stiefkinder und Russland unsere Stiefmutter.“ – David Wick

Zu viel Leid ist passiert. Der Schmerz war zu groß, um zu verzeihen und zu vergessen.

In den 90er Jahren wurden wir zur Verhöhnung, zur Verspottung, um sich nochmals über uns lustig zu machen, mit einer blechernen Medaille mit einem Stalinbild ausgezeichnet. Mehr hatten sie nichts uns zu geben. Noch Einmal sollten wir sagen: ‚Danke dir Genosse Stalin für unsere glückliche Trudarmee.‘ Wir lehnten dieses Geschenk ab.“ – David Wick

Für meine Großeltern und meine Mutter aber wurde Balchasch zur Heimat. Hier fühlten sie sich zugehörig, obwohl sie Deutsche waren.

Zu der Zeit gab es keine ethnische Mehrheit in Kasachstan. Kasachen, Russen, Ukrainer, Deutsche und Koreaner lebten friedlich miteinander. Eine Zeit der Integration begann. Unzählige Male habe ich mir die Stadt Balchasch am See in Kasachstan ausgemalt. So ganz konnte ich es mir aber nie vorstellen, trotz hunderter Erzählungen meiner Großeltern. Jetzt lag dieser vertraute und doch so fremde Ort endlich vor mir.

Die Straßen waren verkommen, ringsum dutzend Sowjetbauten, umschlungen von dürrer Steppe und der Himmel, voll von Abgasen der Kupferfabrik. Hinter der Stadt stach der Balchasch-See in hellem Aquamarin in den öden Farben der Steppe heraus.

Beschädigtes Lenin-Denkmal in Balchasch, Kasachstan

Die Zeit schien seit dem Zerfall der Sowjetunion stehen geblieben zu sein. Selbst das Lenin-Denkmal stand noch. Nur die Nase von Lenin, die zum Opfer von Vandalismus wurde, ließ darauf hindeuten, dass Balchasch über die Sowjetzeiten hinweg ist.

Ich besuchte die Häuser meiner Groß- und Urgroßeltern, die Schule meiner Mutter und den See, an dem meine Familie so viele Wochenenden verbrachte. Balchasch trotzt von glücklichen Erinnerungen meiner Familie. Aber alles wirkte wie ein schwarz-weiss Film, lang vergangen.

Balchasch symbolisiert für mich das Ende einer langen und schmerzhaften Geschichte der Russlanddeutschen. Die Zeiten hier waren gute Zeiten. Aber für viele Russlanddeutsche war es unmöglich, das Geschehene zu vergessen. Als die Ausreise nach Deutschland endlich möglich wurde, gab es für meine Urgroßeltern keine andere Wahl als dafür zu sorgen, dass die komplette Familie nach Deutschland zurückkehrt. Die Angst vor einer Wiederholung der Geschichte war enorm.

Der Aufbruch für die Generation meiner Großeltern und meiner Mutter aber war schwerer. Kasachstan war ihr Zuhause. In Deutschland wurden sie zu Fremden.

Auf meiner Reise in Kasachstan erkenne ich, dass heute Deutschland das Zuhause unserer Familie ist. Aber unsere Geschichte bleibt immer ein Teil von uns. Sie macht unsere Identität aus.

Um tiefsitzende Identitätsfragen der Russlanddeutschen zu beantworten, müssen wir damit beginnen, mehr Fragen über unsere eigene Geschichte zu stellen. Das Wissen, das wir besitzen, muss weitergegeben werden, bevor es zu spät ist. Ohne unsere Geschichte verlieren wir unsere Identität. Spaltungen in russlanddeutschen Familien werden weiter wachsen, wenn wir unserer Geschichte nicht nachgehen.

So leidvoll unsere Geschichte auch ist, so wichtig ist es, die Erfahrungen unserer Vorfahren zu teilen. Sie sind auch ein bedeutender Teil der gesamten Geschichte Deutschlands.

Gerade jetzt, wo die deutsch-russischen Beziehungen kaum angespannter sein könnten und Russland die Grauen der Sowjetzeiten wiederholt, ist es an der Zeit, über die Vergangenheit zu reden.

Denn ein Volk, das seine Geschichte nicht kennt, hat keine Zukunft.

Nadja Sieniawski

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