Ein deutscher Architekt hat den „Architekturführer Kasachstan“ veröffentlicht. Darin dokumentiert er als erster die neuesten Bauten der kasachischen Hauptstadt und ordnet sie kulturgeschichtlich und architekturhistorisch ein. Solch eine Publikation gibt es in diesem Fachbereich noch nicht einmal in kasachischer oder russischer Sprache.

Ein Zehn-Euro-Schein zeigt Architektur, die es nicht gibt. Einigen Benutzern der europäischen Währung mag dies möglicherweise noch gar nicht aufgefallen sein. Die auf dem rosa-roten Schein abgedruckten Bauwerke sehen aus wie Viadukte oder Bogenbrücken, vielleicht sogar aus der Zeit der Römer.

Damit kann der „Baiterek“-Turm, der auf fast jedem kasachischem Geldschein abgebildet ist, nicht mithalten. Das Nationalsymbol wurde erst 2002 fertiggestellt. „Der ‚Baiterek‘-Turm ist ein Gebäude, das noch nicht einmal eine Generation alt ist und schon ist er sehr präsent – auch auf den Geldscheinen“, stellt Phillip Meuser fest.

Er ist freischaffender Architekt und Herausgeber eines neuen Architekturführers über Kasachstan. Damit hat der 45-Jährige eine Dokumentation der jüngsten Architekturgeschichte veröffentlicht. Meuser interessiert sich für den sowjetischen Wohnungsbau und hat auch eine Dissertation darüber geschrieben. Vor kurzem präsentierte er Studenten der Führenden Kasachischen Akademie für Architektur und Bauingenieurwesen (KazGASA) seine Publikation. Dazu hatte das Goethe-Institut und die Friedrich Ebert Stiftung in die KazGAZA eingeladen. Bisher ist der „Architekturführer Kasachstan“ ein Unikum, weil er die neuesten Bauwerke in Astana dokumentiert. Das gibt es bisher nicht einmal in einer russischsprachigen Veröffentlichung.

Architektur hilft bei Nationenbildung

Diese will mehr sein als nur eine Dokumentation der jüngsten Architekturgeschichte. Schon auf den ersten Seiten wird dies dem Leser deutlich: Zu sehen ist ein leeres Baugrubenfeld, auf dessen Mitte der „Baiterek“ zu sehen ist. Daneben steht ein Zitat von Nursultan Nasarbajew: „Eine Hauptstadt zu bauen heißt, der Geschichte einer Nation ein neues Kapitel hinzuzufügen.“
Unverkennbar wird der Leser darauf aufmerksam gemacht, dass die Geschichte der Stadt Astana, beziehungsweise seiner Gebäude nicht ohne die Geschichte der Republik Kasachstan gelesen werden kann. Dafür ist der „Baiterek“-Turm das beste Beispiel.

Im Hörsaal der KazGASA hält er das hellblaue Buch – zufällig in der gleichen Farbe wie die kasachische Nationalflagge – in den Händen. Es will mehr sein als nur ein Bilderbuch mit den wichtigsten Architekturdenkmälern der Republik. „Mir geht es darum, die Architektur hier in Kasachstan kritisch zu würdigen. Mein Buch soll Anlass sein, Dinge zu hinterfragen. So manch ein Gebäude hat durch den Diskurs eine Qualität bekommen, die es vielleicht nicht immer verdient hat“, erklärt Meuser den Studenten. Er versteht Kritik dabei nicht als etwas Negatives. Es geht ihm viel mehr um angemessene Würdigung der widersprüchlichen kasachischen Architektur, die geprägt ist vom russisch-sowjetischen Erbe, von orientalischen und asiatischen Traditionen.

Der Leser bekommt nicht das Gefühl, kasachische Architektur sei minderwertig, weil sie westliche oder asiatische Stile kopiere. Im Gegenteil: Astana ist gerade etwas Besonderes, weil Architektur hier jung und so eng mit der kasachischen Nationenbildung verknüpft ist. Ein Paradebeispiel hierfür ist der „Baiterek“-Turm, der schon 12 Jahre nach seiner Fertigstellung zu einem nationalen Symbol geworden ist.

Identifikation mit Architektur

Der Ansatz der kritischen Würdigung der kasachischen Architektur gelingt. Die Dokumentation Kasachstans ist gespickt mit Aufsätzen von Kasachstan-Experten. Darunter sind Botschafter Dr. Guido Herz, der Kulturwissenschaftler Adil Dalbei und viele andere. Eine besondere Bereicherung ist ein Interview mit dem inzwischen verstorbenen Kisho Kurukawa, der Entwickler des Masterplans der Stadt Astana war und dem Redakteur der einzigen Architekturzeitschrift Kasachstans Timur Turekolow.

Neben dem Schwerpunkt auf die noch junge Hauptstadt Kasachstans arbeitet der Architekturführer die Geschichte der Sowjetarchitektur auf. Meuser gelingt es, die Prunkbauten des vergangenen Sowjetregimes denen Astanas gegenüberzustellen. Durch den gegenseitigen Bezug wird deutlich, was der zeitgenössischen Architektur in Astana noch zu fehlen scheint. „In Astana wird Geschichte inszeniert, um der Stadt eine eigene Identität zu geben“, konstatiert Meuser. Er weiß, dass auch die Sowjetarchitektur Ausdrucksform der Macht war und eine wichtige Identifikationsfunktion ausübte.

Sein Architekturführer führt dem Leser die interessanten Parallelen zwischen Ikonen der Sowjetischen Moderne, zu denen unter anderem das Hotel Kasachstan oder der Palast der Republik gehören, und der neuen symbolträchtigen Architektur Astanas vor Augen.

Während seiner Reise nach Kasachstan gab Phillip Meuser sein Wissen auch an die Studenten weiter. Er leitete einen Workshop an der KazGAZA zum Thema sowjetischer Wohnungsbau. Bald soll eine englische Übersetzung des „Architekturführer Kasachstan“ erscheinen, sodass er nicht nur den deutschsprachigen Lesern zugänglich ist.

Von Dominik Vorhölter

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