Jedes Jahr vergibt der Deutsche Bundestag in Zusammenarbeit mit den Berliner Universitäten im Rahmen des „Internationalen Parlaments-Praktikums“ Stipendien an 100 junge Menschen aus der ganzen Welt. In einem fünfmonatigen Programm lernen die Stipendiaten das politische System Deutschlands von innen kennen: Sie assistieren einem Bundestagsabgeordneten, schreiben Reden und bereiten Sitzungen vor. Abgerundet wird das Programm durch Begleitstudien an den drei Berliner Universitäten. Die Journalistin und ehemalige DAZ-Chefredakteurin Natalja Salipjatskich aus Almaty wird im kommenden Jahr zu den Stipendiaten gehören.

Zuerst Chefredakteurin, dann Praktikantin: Das klingt nicht nach einer steilen Karriere. Wie also kommt eine Journalistin aus Kasachstan dazu, sich für das „Internationale Parlaments-Praktikum“ beim Deutschen Bundestag zu bewerben? „Ich will einen Blick hinter die Kulissen eines demokratischen Staates werfen.“ Natalja Salipjatskich fährt nach Deutschland, um zu erfahren, wie eine freie Presse mit demokratischen Instituionen interagiert und um die Atmosphäre im Bundestag zu erleben. Es soll eine Studienreise sein. „Besonders interessiert mich die Streitkultur im Deutschen Bundestag. Pluralismus, die Existenz verschiedener Standpunkte und die Art und Weise, wie diese vertreten werden – das will ich kennenlernen!“
Besonders streitbar wirkt Natalja Salipjatskich nicht, zumindest nicht auf den ersten Blick. Sie spricht leise und bedächtig, überlegt lange, bevor sie etwas sagt.

Doch Natalja weiß genau, was sie will. Ihre Stelle als Chefredakteurin der DAZ hatte sie gekündigt, weil sie sich dort nicht mehr weiterentwickeln konnte, wie sie sagt. „Die Zeitung war lange Zeit sehr wichtig für mich, aber irgendwann merkte ich: Ich trete auf der Stelle, jetzt ist Schluss!“ Der Freiraum habe gefehlt, das nötige Geld, um auch einmal einen anderen Artikel einkaufen zu können und um ausreichend gute Mitarbeiter zu bezahlen.

Ihre Erfahrungen bei der Zeitung möchte sie dennoch nicht missen. Eine gewisse Reife habe sie hier entwickelt und die nötigen Vorrausetzungen, um im Auswahlprozess für das Stipendium des Deutschen Bundestages bestehen zu können. „Ich kannte dieses Programm schon länger, habe mich aber nie dazu bereit gefühlt, mich zu bewerben. Man braucht dafür ein gewisses Selbstvertrauen.“

Die lange Zeit der Vorbereitung scheint sich für sie gelohnt zu haben, den Auswahlprozess durchlief sie mit Leichtigkeit. Nachdem sie eine umfangreiche Bewerbung an die Deutsche Botschaft geschickt hatte, wurde sie nach Astana zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.
„Die Kommission, mit der ich sprach, war vor allem sehr interessiert an meiner Arbeit. Ich erzählte ihnen, wie wichtig ich den Beruf eines Journalisten in einer Demokratie finde, das hat ihnen wohl gut gefallen.“

Auch nach ihrer Rückkehr aus Berlin wird Natalja weiter als Journalistin arbeiten, die Erfahrungen, die sie im Deutschen Bundestag sammeln wird, will sie in diese Arbeit einfließen lassen. „Ich werde mit Sicherheit einige Artikel über das schreiben, was ich in Berlin gesehen und gelernt habe. Auch andere sollen davon profitieren.“

Fraglich ist jedoch, ob ihre neu gewonnenen Erfahrungen auch wirklich auf offene Ohren stoßen werden. „Meiner Meinung nach interessieren sich viel zu wenige Menschen für Politik. Materielle Dinge stehen im Vordergrund, teure Autos und schicke Kleidung etwa.“

Eines jedoch ist sicher: Lernen wird sie in den fünf Monaten in Berlin einiges. Die Stipendiaten erhalten nicht nur einen lebensnahen Eindruck des Arbeitsalltages im deutschen Parlament, sie werden auch gründlich darauf vorbereitet. In einer siebenwöchigen Einführungsphase zu Beginn des Programms erfahren sie alles, was es über die Kultur und das politische System Deutschlands zu wissen gibt. Auch während ihrer praktischen Arbeit im Bundestag erhalten die Teilnehmer die Gelegenheit, an allen drei Berliner Universitäten Seminare und Vorlesungen zu besuchen und sich somit auch theoretisch weiterzubilden.

Vermutlich wird sich Natalja zumindest während der Einführungsveranstaltungen langweilen: Sie kennt sich bereits bestens aus in der politischen Landschaft Deutschlands. So fiel es ihr auch nicht schwer, sich zu entscheiden, für welche der Bundestagsfraktionen sie tätig sein möchte.

„Ich wollte unbedingt für eine der beiden Volksparteien arbeiten, entschieden habe ich mich für die SPD.“ Der Grund hierfür war eine Vorliebe, die Natalja Salipjatskich mit dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder teilt. Sie beide mögen das Gemälde „Der Tod des Dichters Walter Rheiner“ von Conrad Felixmüller. Im deutschen Polit-Magazin „Cicero“ hatte Natalja die „Lieblingsbilder der Mächtigen“ gesehen. Das Bild, das von Gerhard Schröder ausgesucht wurde, gefiel ihr auf Anhieb. „Es drückt eine ungeheure Verzweiflung aus und spiegelt sehr gut die politische Situation in Deutschland wieder.“

Natürlich war auch das Lieblingsbild von Angela Merkel abgedruckt, ein expressionistisches Gemälde von Emil Nolde. „Viel zu hart und aggressiv, genau wie ihre Politik“, urteilt Natalja. Verständlich also, dass sie sich nicht für die CDU entschieden hat. Hart und aggressiv, das passt nicht zu Natalja Salipjatskich.

Von Jan Peter

08/12/06

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