Im Dezember jährt sich zum 40. Mal die Gründung des Deutschen Schauspieltheaters Temirtau/Almaty. Mit einer Artikelserie gehen die Kollegen von Volk auf dem Weg der Geschichte des Theaters nach und stellen seine Bedeutung für das damalige Kulturleben der Russlanddeutschen heraus.
Die Eröffnung des Deutschen Schauspieltheaters in der Sowjetunion (Temirtau/Kasachstan) im Dezember 1980 bedeutete einen Meilenstein in der Kulturgeschichte der Russlanddeutschen der Nachkriegszeit.
In den folgenden Jahren entwickelte sich das Schauspieltheater zum politischen und selbstbewussten Theater, zum Sprachrohr der Deutschen in der Sowjetunion, zum Mittelpunkt vieler geschichtlicher und kultureller Ereignisse im Leben der Volksgruppe. Obwohl das Theater innerhalb von über zehn Jahren nahezu alle Siedlungsgebiete der Deutschen in Kasachstan, Sibirien und an der Wolga bereiste, ist dieses Stück russlanddeutscher Geschichte vielen Landsleuten verborgen geblieben.
Kein Freispruch für die Deutschen der Sowjetunion
Mit den stalinistischen Repressionen in der Sowjetunion in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, wobei die Deutschen und ihre Kultur überdurchschnittlich betroffen waren, und vor allem mit dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges 1941 mit Deportationen und der Auflösung der Wolgarepublik (die deutschen Landkreise in der Ukraine und anderen Siedlungsgebieten waren bereits 1938 aufgelöst worden) war das deutsche Vorkriegstheater an der Wolga und in der Ukraine endgültig Vergangenheit.
Erst nach über 40 Jahren konnte in der kasachischen Stadt Temirtau (ab 1989 in Alma-Ata/Almaty) das erste deutsche Nachkriegstheater aufgebaut werden: kurz vor der entscheidenden Wende in der Sowjetunion, die es auch Jahrzehnte nach dem Krieg nicht geschafft hatte, die eigenen Deutschen öffentlich vom Generalverdacht der Kollaboration mit Hitler-Deutschland freizusprechen.
Kasachstan nicht zufällig als Standort gewählt
Zwar durften die Deutschen in der Sowjetunion schon vorher gewisse Zugeständnisse erfahren (muttersprachlicher Deutschunterricht seit 1957/58, Abteilungen für die Heranbildung von Deutschlehrern für den muttersprachlichen Deutschunterricht an pädagogischen Hochschulen in Nowosibirsk, Barnaul, Omsk und Koktschetaw, drei deutschsprachige Zeitungen, deutsche Radiosendungen in Alma-Ata, Omsk und Barnaul), die allerdings weniger Fürsorge um die nationale Entfaltung als vielmehr ein Instrument der Partei und der Sowjets waren, die Russlanddeutschen zu kontrollieren. Die Volksgruppe und ihre rechtswidrige Lage wurden trotzdem noch jahrelang totgeschwiegen. Und nun kamen das deutsche Theater und ab 1981 der Literaturalmanach „Heimatliche Weiten“ hinzu.
Kasachstan wurde nicht zufällig als Standort des deutschen Theaters gewählt. Zu dieser Zeit lebten in der Republik fast eine Million Russlanddeutsche. Aber auch für Hunderttausende andere Russlanddeutsche, die über die ganze Sowjetunion verstreut lebten (insgesamt waren es laut Volkszählung von 1989 2.040.000), bedeutete ein deutsches Nationaltheater das Erwachen des nationalen Selbstbewusstseins und die Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln.
Das Deutsche Schauspieltheater wurde am 26. Dezember 1980 auf Beschluss des Zentralkomitees der KP Kasachstans und des Ministerrates der Kasachischen SSR eröffnet. 30 Absolventen der Schtschepkin-Theaterschule läuteten die erste Spielzeit mit dem Theaterstück „Die Ersten“ von Alexander Reimgen ein. Das Theater wurde in einem leerstehenden Gebäude untergebracht (bei der Renovierung des Theatergebäudes mussten die Schauspieler selbst kräftig mit anpacken), einem noch im Zweiten Weltkrieg erbauten Klubhaus, wo zuletzt ein Operetten-Theater spielte.
Studenten beherrschten kaum Hochdeutsch
Der Weg zur Bühne war für die Schauspieler kein leichter. Im Sommer 1975 wurden ca. 36 junge Deutsche aus verschiedenen Regionen des Landes in die Moskauer Schtschepkin-Theaterschule beim Maly Theater aufgenommen. Die Studenten beherrschten kaum Hochdeutsch, mussten aber in vier Jahren Bühnendeutsch erlernen. Außerdem standen auf dem Studienprogramm einheimische und ausländische Theatergeschichte, Musik, Kostüme, Plastiken und Tanz, Fechten und szenische Bewegung, Technik der Schminke, technische Ausstattung der Bühne, Schauspielkunst und Sprechkultur.
Für die Abschlussprüfung wurde das erwähnte Stück mit dem symbolhaften Titel „Die Ersten“ gewählt. Zum ersten Mal durfte man in der Öffentlichkeit über die Deutschen sprechen, die sich wie alle anderen Völker des Landes an allen „großen Taten“ der sowjetischen Regierung beteiligten; zum ersten Mal durften deutsche Namen in der Öffentlichkeit genannt werden. Eine weitere Diplomarbeit der angehenden Schauspieler war das Trauerspiel „Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing. „Die Schneekönigin“ (Kindervorstellung), ein Märchen von Eugen Schwarz, war die dritte Diplomarbeit der Studenten des ersten Studios.
Werke von bekannten Schriftstellern kamen auf den Spielplan
1983 wurde ein zweites deutsches Theaterstudio ins Leben gerufen, weil es dem Deutschen Schauspieltheater in Temirtau an schauspielerischem Nachwuchs fehlte. Es war wichtig, dass auch das zweite Studio mit 25 Nachwuchsschauspielern bei der Schtschepkin-Theaterschule ausgebildet wurde, denn dadurch waren die Kontinuität der Ausbildung und ein hohes Unterrichtsniveau gesichert.
Mehrere Regisseure haben zur Schärfung des Theaterprofils entscheidend beigetragen, darunter Erich Schmidt und Bulat Atabajew. Mit der Zeit wuchsen auch Regisseure aus den eigenen Reihen heran, etwa Alexander Hahn, Katharina Schmeer oder Peter Warkentin. Im Laufe der Jahre standen auf dem Spielplan des Deutschen Schauspieltheaters nicht nur Werke von bekannten Schriftstellern wie Lessing, Schiller, Kleist, Goldoni, Ostrowski, Tschechow, Schukschin, Arbusow, Dürrenmatt und Borchert, sondern auch Stücke russlanddeutscher Autoren.
Dazu gehörten unter anderem das Stück „Der eigene Herd“ von Andreas Saks, die Trilogie „Auf den Wogen der Jahrhunderte“ von Viktor Heinz, „Nachklänge oder Anfang einer Biographie“ von Konstantin Ehrlich, „Ballade von der Mutter“ von Karl Schiffner, „Hab oft im Kreise der Lieben“ von Irene Langemann oder das Konzertprogramm „Abendklänge“.
Politisches und selbstbewusstes Theater
Auch wenn die jungen Schauspieler, frisch von der renommierten Moskauer Schtschepkin-Theaterschule, zuerst auf der Suche nach der eigenen Identität, der eigenen Sprache, dem „russlanddeutschen“ Theater und dem Zuschauer, der sie verstand, waren, begann mit der Inszenierung von Theater- oder Prosastücken russlanddeutscher Autoren und dem Eintauchen in die Vorkriegsgeschichte der Volksgruppe auch der Kampf um das nationale Theater.
In den folgenden Jahren entwickelte sich das Schauspieltheater zu einem politischen und selbstbewussten Theater, zum Sprachrohr der Deutschen in der Sowjetunion sowie zum Mittelpunkt vieler geschichtlicher und kultureller Ereignisse im Leben der Volksgruppe. Es stellte sich bewusst an die Vorderfront der Bewegung für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit gegenüber den Russlanddeutschen. Das enthusiastische junge Schauspielerteam des Deutschen Theaters wurde zum Rufer, und das nicht in der Wüste. Zum Rufer, der viele – sehr viele – aus dem Dornröschenschlaf weckte und zur Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln anregte.
Da die deutsche Bevölkerung verstreut in der ganzen Sowjetunion lebte, wurde das Theater von Anfang an als Wanderbühne konzipiert. Mit Gastspielen bereiste es nahezu alle Siedlungsgebiete der Russlanddeutschen. Die Schauspieler unterhielten Kontakte zu vielen deutschen Kulturgruppen, die bei den Gastspielreisen eine spürbare Unterstützung für das Theater waren. Überall in den Dörfern und Städten Kasachstans, Sibiriens, des Urals, des Wolgagebiets und Kirgisiens trafen sich die Schauspieler mit den örtlichen Laienkünstlern, halfen ihnen bei der Zusammenstellung von Konzertprogrammen, bei der Auswahl neuer Lieder und Schwänke, führten mit ihnen Proben durch.
Ein unvergessliches Ereignis
Trotz der zunehmenden Freiheit, die eigene Identität in der Öffentlichkeit präsentieren zu können, war die Pflege der deutschen Kulturtraditionen auch in der Zeit der Perestroika nicht überall selbstverständlich. Mehrfach wandten sich die Schauspieler mit Petitionen wegen der klägliche Lage der deutschen Sprache und Kultur, die sie bei ihren zahlreichen Gastspielen vorgefunden hatten, an höchste Staats- und Parteigremien in Moskau und Alma-Ata. Der zentrale Gedanke lautete: Nur die Wiederherstellung der Autonomie an der Wolga kann die notwendigen Voraussetzungen für die gleichberechtigte Stellung der deutschen Minderheit in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen schaffen.
Zu den Höhepunkten des Deutschen Theaters zählen die Festivals der deutschen Kultur und Kunst. Das 1. Festival der deutschen Kultur in Alma-Ata, 1988 vom Deutschen Schauspieltheater Alma-Ata initiiert und durchgeführt, versammelte zahlreiche deutsche Kulturschaffende und Laienkünstler aus ganz Kasachstan und den angrenzenden Regionen Russlands. Am 2. Festival der deutschen Folkloregruppen 1990 beteiligten sich bereits 120 russlanddeutsche Gesangs-, Musik- und Tanzgruppen, Chöre, Blasorchester, Kinder- und Jugendensembles sowie bekannte Solisten, Künstler und Schriftsteller.
Im Februar 1989 wurde am Theater eine Woche der deutschen Dramatik veranstaltet – ein unvergessliches Ereignis für Schauspieler und zahlreiche Gäste. Die Theaterwoche im Februar 1990 verlief unter dem Motto „Theater und Zuschauer“. Beteiligt waren Laienkünstler und Gäste aus allen Gebieten und Regionen des Landes sowie aus der DDR und Österreich. Es kamen etwa 300 Besucher angereist, die sich mit der Tätigkeit des Theaters vertraut machen wollten.
Mit Zuversicht in die Zukunft
Im Sommer 1989 verbrachte das Deutsche Theater vier erlebnisreiche Wochen in der Bundesrepublik Deutschland mit einer Fortbildung in der Spielstatt Ulm. Mit der Inszenierung „Auf den Wogen der Jahrhunderte“ stellte sich das russlanddeutsche Theater den einheimischen Kollegen und dem Publikum vor. Im Herbst 1990 weilte das Theater in Berlin, Wittenberg und Bautzen. Als Repertoire brachte das Theater die Aufführungen „Auf den Wogen der Jahrhunderte“, „Menschen und Schicksale“, „Emigranten“ und „Wunschkonzert“ mit.
Am 17. November 1989 eröffnete das Deutsche Theater seine zehnte Spielzeit in der Hauptstadt Alma-Ata. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten blickten die Schauspieler zuerst mit Zuversicht in die Zukunft, die allerdings nur von kurzer Dauer war. Die Ausreisewelle riss auch schon die ersten Schauspieler mit. Es folgten die Zuschauer, dann auch die Autoren und Schauspieler. Kurz vor seiner Ausreise schrieb David Winkenstern in der „Freundschaft“: „Ich bin der Meinung, dass das Theater dort sein muss, wo sich sein Zuschauer befindet, und wenn es jetzt nun mal so ist, dass wir in verschiedenen Orten leben, müssen wir einen annehmbaren Ausweg für uns finden.“
Unerfüllte Träume nach der Auswanderung
Damals schien die Ausreise solch ein annehmbarer Ausweg zu sein. Der Theatertraum in Deutschland erfüllte sich jedoch nicht. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, mussten die ehemaligen Schauspieler umdenken und Wege gehen, die meist nichts mit Theater zu tun hatten. Junge Schauspieler, alle an der Theaterakademie Almaty ausgebildet, waren in den späten 1990er Jahren die Grundlage des Theaters. Zwei Klassen gingen in dieser Zeit durch die Akademie, die 1997 nach fast fünf Jahren ihre Pforten schließen musste.
Das Deutsche Theater, das in den Jahren 1980 bis 1992 zu einem Nationaltheater aufstieg, etablierte sich in den späten 1990er Jahren und im laufenden Jahrhundert als internationales Theater, das vor ganz anderen Aufgaben und Herausforderungen steht.
Zusammenfassung: Nina Paulsen, Nürnberg (Nach Rose Steinmark: „Theater – ein Ort, wo man sterben lernt“, HB 2006; „Das Schicksal eines Theaters“, RusDeutsch Media, Moskau 2017)