Der 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Aus diesem Anlass haben unsere beiden Autoren André Nowak getroffen. Der ehemalige Fraktionsgeschäftsführer der LINKEN-Bundestagsfraktion setzt sich seit Jahren für diese Personengruppe ein. Sein Engagement führt ihn immer wieder auch in die Länder der ehemaligen Sowjetunion, unter anderem nach Kasachstan.

Mit den immer größer werdenden Fortschritten in der modernen Medizin finden alte ethische Debatten mehr Eingang in die Öffentlichkeit. Wie weit darf Sterbehilfe verfügbar sein? Darf man Gott spielen, und sich demnächst sein Baby im Katalog zusammenstellen? Haben Menschen mit Behinderung ein Recht auf Sex? Diese teils tabuisierten Diskurse profitieren ungemein von einer internationalen Zusammenarbeit. André Nowak ist einer der Menschen, die jahrelange Erfahrung im Umgang mit diesen Themen haben.

Nowak arbeitet seit vielen Jahren als Büroleiter für Abgeordnete der LINKEN im Deutschen Bundestag, ist ehrenamtlich Schatzmeister beim Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ e.V. (ABiD) und zuständig für dessen internationale Arbeit. Kein anderer deutscher Behindertenverband steht in so engem Kontakt mit den ehemaligen Sowjet-Staaten, darunter auch Kasachstan.

Mit dem Thema und dem Land kam Nowak durch eine Reihe persönlicher Begegnungen in Berührung. Da war zunächst der Beginn des Zusammenwirkens mit Ilja Seifert 1990. Die jahrelange Arbeit im Bundestag und im ABiD mit einem Politiker und Freund, der seit seinem 17. Geburtstag querschnittsgelähmt ist und im Rollstuhl sitzt, hat ihm veranschaulicht, welche Barrieren Menschen mit Behinderung in ihrem Alltag zu überwinden haben – baulisch wie in den Köpfen.

Jahrelanger Austausch mit dem postsowjetischen Raum

Die Verbindungen in den Osten entstanden vor rund fünfzehn Jahren. Eine Gruppe junger Menschen aus Belarus plante gemeinsam mit einer kleinen deutschen Organisation ein Projekt namens „glavnye ravnye“, das Jugendliche mit Behinderung auf den Arbeitsmarkt vorbereiten sollte. Dazu wollten sie Nowaks und Seiferts Meinung hören und luden sie nach Minsk ein zu der Konferenz, auf der das Projekt vorgestellt wurde.

Aus diesem einmaligen Kontakt sollte eine Zusammenarbeit entstehen. Ein Jahr später traf man sich erneut zum runden Geburtstag des Behindertenverbandes von Belarus. Auch Verbände aus Russland, der Ukraine und Kasachstan waren dabei. So entstand allmählich eine große Kooperation zwischen dem ABiD und den postsowjetischen Ländern. Einmal pro Jahr trifft man sich jeweils an unterschiedlichen Orten zum Erfahrungsaustausch, diskutiert über Möglichkeiten der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und aktuelle Probleme und Debatten.

Immer wieder stoßen Menschen mit Behinderung in ihrem Kampf für mehr Rechte auf große Widerstände. Einerseits zeigen sich diskriminierende Kommentare im Alltag, andererseits nutzen prominente Personen in öffentlichen Debatten ihre Reichweite, um die Bewegung der Menschen mit Behinderung öffentlich anzugreifen. „Da muss man sich wehren!“, sagt Nowak.

Er findet, dass Menschen mit körperlichen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen eine öffentliche Stimme brauchen. Zudem müsse man Überzeugungsarbeit leisten. Also die Menschen, die an den Kommunikationskanälen sitzen, erreichen – das bedeutet auch Journalisten sensibilisieren. Für diese Rechte könnten nicht nur die Betroffenen streiten. Es sei wichtig, dass es Verbündete in allen Teilen der Gesellschaft gebe: bei den Medien, in der Politik, und nicht zuletzt eben auch in der Zivilgesellschaft.

Kritik an Pränataldiagnostik

Besonders viel Aufklärungsarbeit sieht der ehemalige Fraktionsgeschäftsführer der Linken-Bundestagsfraktion in der neuen „Pränataldiagnostik“. Mit dieser Methode lässt sich bestimmen, ob ein Kind voraussichtlich mit Trisomie 21 auf die Welt kommen wird. Die Eltern können dann eine mögliche Abtreibung unter neuen Gesichtspunkten diskutieren. In Deutschland ist diese Methode bereits gängige Praxis, in Zentralasien hingegen ist das Diagnoseverfahren kaum bekannt. In Großbritannien ist es sogar gesetzlich erlaubt, nach der dritten Zellteilung einen gesunden der acht Embryonen auszuwählen. Dies sind Schritte hin zum Designerbaby.

André Nowak sieht das sehr kritisch, weil für ihn jedes Kind ein Recht auf Leben hat und er die Vielfalt am Menschen besonders schätzt. „Frauen bzw. die Eltern werden zunehmend von der Gesellschaft unter Druck gesetzt, eine solche Untersuchung vorzunehmen. Dabei spielt der Geburtsprozess die viel entscheidendere Rolle, ob ein Kind mit einer Behinderung zur Welt kommt oder nicht.“, erklärt Nowak. „Es muss möglich sein, ohne solche Voruntersuchungen Kinder zu gebären. Auch Kinder mit Behinderungen und deren Familien können ein glückliches Leben führen. Wichtig ist dafür, dass die Gesellschaft dies akzeptiert und den Familien die notwendigen Rahmenbedingungen für ein Leben in Würde schafft.“

An Kasachstan schätzt Nowak besonders die Gastfreundschaft und Ehrlichkeit der Menschen. „Wenn man einmal die kasachische Seele versteht, kommt man gerne zurück“, sagt er. „Dann ist das eine Herzenssache.“ Es gibt aber mitunter auch Missverständnisse. „Wenn ich hierher komme, wird immer suggeriert, Deutschland wäre ein Paradies für Menschen mit Behinderung. Da muss ich immer widersprechen. Wir haben schon viel erkämpft, müssen aber ebenso wie in anderen Ländern noch sehr viele Barrieren unterschiedlichster Art beseitigen.“ Deutschland sei zwar eines der reichsten Länder der Welt, aber der Reichtum komme in der Regel nicht bei den Menschen mit Behinderung an.

Konferenzen in Zentralasien wichtig für staatliche Aufmerksamkeit

Die größte Herausforderung für Organisationen, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzen, sei hier wie dort die Frage nach der Finanzierung. Nowak räumt ein, dass es aber letztendlich doch einfacher sei, eine Konferenz in Berlin zu organisieren, als beispielsweise in Almaty. Die infrastrukturellen Rahmenbedingungen seien so besser gegeben: Man finde eher ein geeignetes Hotel und einen Tagungsort, der Rollstuhlfahrer unterstützt, und auch der öffentliche Nahverkehr sei in Deutschland besser zu meistern.

Für Nowak ist es dennoch wichtig, Konferenzen in den zentralasiatischen Staaten abzuhalten. Denn diese bekommen mehr staatliche Aufmerksamkeit, es sind dort Minister und andere ranghohe Beamte anwesend. Nowak weiß aus Erfahrungsberichten von Freunden und Partnern vor Ort, dass dadurch Veränderungen leichter und schneller erreicht werden können.

Das Wichtigste bei diesem regelmäßigen Erfahrungsaustausch sei jedoch, dass man voneinander lerne und sich gegenseitig ermutige. Als Beispiel nennt Nowak Infrastrukturmaßnahmen in Deutschland – etwa den ausschließlichen Gebrauch von barrierefreien Bussen, den sogenannten Niederflurbussen.

Ein Punkt, in dem dagegen Kasachstan Vorreiter ist, ist das im Gesetz verankerte Recht von Gehörlosen auf Sprachassistenz: In einem bestimmten Jahresumfang müssen den Betroffenen Gebärdensprachen-Dolmetscher zur Verfügung stehen. Außerdem nutzt man die Fortschritte durch Digitalisierung: Wie in einer Art Call-Center sitzen Gebärdensprachen-Dolmetscher in einem Büro zusammen und können über Video-Anruf mit dem Smartphone konsultiert werden.

Ständiger Kampf für die Rechte von Menschen mit Behinderung

Wie aus den Errungenschaften solle man aber auch aus Fehlern der anderen lernen. Ein Beispiel kann Nowak sofort nennen: Die berühmte Kuppel des Berliner Reichstages war im ersten Entwurf des Architekten Sir Norman Foster über Treppen begehbar. Erst auf die Forderung von Ilja Seifert hin wurde stattdessen eine spiralförmige Rampe nach oben gebaut. Der gleiche Architekt wurde 2006 engagiert, die Friedenspyramide in Astana (Nur-Sultan) zu konstruieren. Zweidrittel der Pyramide sind durch einen Schrägaufzug zu erreichen. Das letzte Drittel jedoch, das zu dem runden Tisch führt, an dem die Weltreligionen Platz nehmen sollen, sind erneut Treppen.

Das Problem der Erreichbarkeit von Gebäuden ist für Menschen mit Behinderung omnipräsent. Hier haben Deutschland und Kasachstan auch sehr ähnliche Probleme. In Deutschland wiegt Denkmalschutz schwerer als ein barrierefreier Zugang. Der Fernsehturm beispielsweise ist nicht erreichbar für Rollstuhlfahrer. Im Bajterek-Turm in Nur-Sultan gibt es zwar einen Fahrstuhl, aber davor und ganz oben gibt es wieder Treppen. Zum Vergleich: Auf die Akropolis in Athen und sogar auf die Chinesische Mauer bei Badaling kommt man bereits mit Fahrstühlen. Nowak wirft die Frage auf, ob sie denn deshalb weniger Weltkulturerbe sind?!

Er zieht daraus die Erkenntnis, dass es überall ein ständiger Kampf ist, die Rechte von Menschen mit Behinderung einzufordern. Am effektivsten ist die Inklusion zu schaffen, wenn man sich das Motto der internationalen Behindertenbewegung zu Herzen nimmt: „Nichts über uns ohne uns!

Katharina Frick und Lukas Kunzmann

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