David Wick, Autor der zwei autobiographischen Bücher „Aus dem Leben der Rußlanddeutschen“ sowie „Страницы Пережитого“ hält in seinen Werken als Zeitzeuge Erinnerungen an das 20. Jahrhundert aus der Perspektive eines Deutschen aus Kasachstan fest.

Im Alter von 78 Jahren verschriftlicht David Wick seine „unbestreitbar laute Wahrheit“ im Rahmen der zwei autobiographischen Bücher. „Alles, was lange in mir brodelte: Erniedrigungen, Beleidigungen, Hunger, Not, Verleumdungen will ich jetzt aussagen.“ Der Autor ist 1916 im Dorf Nowo-Usenka, Nordkasachstan in einer Zeit geboren, in der im Russischen Reich sowie der Sowjetunion noch vieles passieren sollte. Als Zeitzeuge berichtet er insbesondere von dem Leben in den Lagern der Trudarmee, isoliert von der Außenwelt, in denen er 1607 Tage verbrachte. „Ich bin weit herumgekommen. Ich war im WolschLag, KarLag, auf dem Bau500 und anderen großen Bauten des GULags“, erzählt Wick von seiner Zeit als Trudarmist. Er leistet damit wichtige Aufklärungsarbeit und offenbart bislang Unausgesprochenes, denn von den Verhältnissen in den Arbeitslagern der Sowjetunion war lange Zeit wenig bekannt.

Die beiden Zeichnungen (siehe auch Hauptbild) stammen aus David Wicks Buch „Aus dem Leben der Rußlanddeutschen“.

Der Autor liefert in den größtenteils chronologisch sortierten Kapiteln, die aus seinen Zeitungsartikeln sowie Beiträgen für das Buch bestehen, einen geschichtlichen Umriss, verknüpft mit seiner Familiengeschichte. Diese weist an vielen Stellen Gemeinsamkeiten mit anderen kasachstandeutschen Erfahrungen auf. Eine Besonderheit ist wohl die Bodenreform des Zarenministers Pjotr Stolypin, infolge derer zahlreiche Personen, darunter auch Wicks Eltern, zur „Neulanderschließung“ nach Sibirien und das damalige Kirgisien (heute Nordkasachstan) umgesiedelt wurden.

Eine bitter schwere Kindheit und Jugend

Damit beginnt Wicks Familiengeschichte etwas früher in Kasachstan als die der meisten Kasachstandeutschen, die erst später deportiert wurden. Wicks Kindheitserinnerungen beschreibt er als sehr unangenehm, inmitten der Oktoberrevolution und diversen Hungerperioden: „Als ich noch ein Kind war, mangelte es überall auf Schritt und Tritt an allem. In den Läden gab es jahrelang keinen Zucker, keine Zundhölzchen, keine Seife, keinen Tee.“ Doch Wick beschreibt keineswegs ausschließlich Erinnerungen, sondern bettet diese in ihren politisch-historischen Kontext ein. So schildert er beispielsweise die Auswirkungen des Erlasses vom 7. August 1932 „Über den Schutz des sozialistischen Eigentums“ sowie seine Folgen für die hungernde Bevölkerung.

Einen großen Teil nimmt die Lage der Russland- und Kasachstandeutschen während des Zweiten Weltkriegs ein. „Die Menschen [wurden] ohne Gericht und gesetzliche Untersuchung nicht ‚mobilisiert‘, wie man noch oft hören mag, sondern verhaftet und mit bewaffneten Soldaten ins [Zwangsarbeits]Lager befördert“, so Wick über das Schicksal, das sein Volk mit vielen weiteren unterdrückten Völkern der Sowjetunion teilt. Eindrücklich schildert der Zeitzeuge die Lebensbedingungen in der Trudarmee, wo er „gehungert, gefroren, gelitten“ hat, und liefert einige Fakten und Zahlen über das Lagersystem. „Auch in unserer Kolonne Nr. 152 starben die Menschen wie Fliegen und wurden frühmorgens auf den Schlitten geladen und dicht am Wäldchen gestapelt – bis zum Frühjahr. Sie durften auch nicht auf dem Kirchhof begraben werden. Das waren doch ‚Faschisten‘“, so Wick über die Lebensrealität der Deutschen in der Trudarmee, von denen insbesondere zur kalten Jahreszeit viele starben.

Auch nach dem Krieg werden neue Lügen gesponnen

Denkmal in Bischkek mit Titel „Den Trudarmisten und den Opfern der Repressionen 1937-1956“

Nach Jahren in der Trudarmee ohne ein Lebenszeichen dachte seine Familie, Wick sei bereits gestorben. Das Ende des Krieges bedeutete für den Trudarmisten für einen kurzen Augenblick Erleichterung. „Wir träumten und glaubten, dass das Leben jetzt besser gehen würde. Aber vergebens!“ Trotz der Wick zufolge vorhandenen Bereitschaft vieler Sowjetbürgerinnen und -bürger, Gräueltaten während des Kriegs zu verzeihen, folgte eine weitere Welle an Verhaftungen, Aussiedlungen und Repressionen. Das Leben in Verbannung ging für viele unterdrückte Völker weiter. So war Wick wie viele weitere Sowjetdeutsche von Stalinschen Repressalien betroffen, an den Kolchos „gebunden“, und wurde nach eigenen Aussagen verhört mit dem Ziel der Beamten, seine Freunde zu beschuldigen und verhaften zu lassen.

Auf Repressionen unter politischen Machthabern lenkt der Autor immer wieder die Aufmerksamkeit. „Unter Stalin waren alle Kinder wie auch Erwachsene Schräubchen“, so Wick. Obgleich sein Fokus auf sowjetdeutschen Erfahrungen liegt, zieht Wick Vergleiche zu Deportation von beispielsweise inguschischen und tschetschenischen Personen und beschreibt ein Misstrauen, das ihm zufolge unter den Völkern gesät wurde. „Blättert man in den Zeitungen der dreißiger Jahre, so bekommt man den Eindruck, als wäre die ganze Welt voll Spione und Schädlinge gewesen. Werktätige gab es weniger als Kulaken, Diversanten, Trotzkisten“, so Wick.

Eine weitere schwere Enttäuschung erlebt der Autor nach dem Zerfall der Sowjetunion. Mit Boris Jelzin als Russlands Präsidenten erlischt seine Hoffnung auf eine Wiederkehr der Autonomen Wolgarepublik. Jelzin betonte, dass es diese Republik entlang der Wolga nie mehr geben solle, und schlug stattdessen das Atomversuchsgelände Kapustin Jar vor. „Ich bin in der ganzen Sowjetunion umhergekommen, aber Gerechtigkeit konnte ich nirgends finden“, schlussfolgert Wick. An mehreren Stellen wird sein Unmut über die politischen Systeme, Reichtum und Armut spürbar, bis er sich fragt: „Gibt es überhaupt noch Gerechtigkeit auf der Welt?“

Einblicke in das Leben in den Dörfern der Kasachischen Sowjetrepublik

Die Schilderungen Wicks zeichnen neben den Einblicke in tragische Ereignisse des 20. Jahrhunderts ein Bild des Alltags in Nowo-Usenka. So erläutert der Autor in einigen Artikeln die Vorgehensweisen manueller landwirtschaftlicher Arbeiten.

Er verschriftlicht dabei nicht nur Erinnerungen an das eigene Leben, sondern auch Erzählungen anderer sowjetdeutscher Dorfbewohnerinnen und -bewohner. Er beschreibt seine Dankbarkeit gegenüber Kasachinnen und Kasachen, die den Deportierten unter die Arme griffen und den Respekt gegenüber der jungen Generation. Auf dessen Schultern lastete der Kolchos, während der Großteil des Dorfes in der Trudarmee war. Wick zeigt auf, wie kreativ die Not machte, indem er Alltagsstrategien erläutert und von kalten Wintern berichtet. Auch einen Einblick in den Dialekt der Deutschen in Nowo-Usenka erhalten Leserinnen und Leser, da ein paar der Buchkapitel in Dialekt verfasst sind.

Erinnerungen, die sich eingebrannt haben

„Wir haben die Bräuche, die Sprache und die Kultur unserer Vorfahren vergessen“, sieht Wick als Konsequenz der Geschehnisse während der Sowjetunion. Was bleibt, sind Erinnerungen anderer Art: „Oftmals höre ich im Traum die lauten Schritte der Aufseher, sehe diese grausamen Menschen und höre das verdammte Gebell der bösen Hunde. […] Immer wieder und wieder fühle ich im Traum die kalten Hände des Aufsehers an meinem ganzen Körper bei den Durchsuchungen, die ich in der Arbeitsarmee so oft durchgemacht habe.“ In mehreren Artikeln, die Wick über viele Jahre in der Deutschen Allgemeinen Zeitung veröffentlichte, hielt er eben diese Erinnerungen fest.

Er sieht es als Aufgabe der älteren Generation von Russlanddeutschen, Unklarheiten bezüglich der Verfolgung und Repressionen in der Sowjetunion aufzudecken. Wick möchte zudem, dass kollektive Erinnerungen weitergegeben werden: „Die junge Generation soll aber auch wissen, was wir Deutsche in Russland waren und was wir durchgemacht haben. Sie sollen auch wissen, dass aller Haß, der den Sowjetmenschen durch die stalinsche Propaganda eingeprägt wurde und alle Rache gegen den Faschismus mußten wir Rußlanddeutsche fühlen, tragen, dulden. Die Rachsucht war groß, unvergeßlich, unverschämt.“ Mit seinen Artikeln in der DAZ sowie den zwei autobiographischen Büchern hat Wick einen erheblichen Beitrag bezüglich Erinnerungsarbeit und der sich selbst gestellten Aufgabe geleistet.

Sasha Borgardt

Teilen mit: