Unsere Autorin, die Berlinerin Inés Noé, hat sich in die Welt russlanddeutscher Redewendungen und Mundarten begeben. Alexander Weiz‘ Aufzeichnungen hat sie nach sprachlichen Fundstücken durchforstet und eine Auswahl eigenwilliger Redensarten für diesen Artikel zusammengestellt.

Der „Boh“ ist eine Kinderschreckfigur der Russlanddeutschen: Ein Mann, der im Schatten wohnt, sich unterm Bett verkriecht, ungehorsame Kinder in seinem schwarzen Sack versteckt und weit, weit wegträgt. Die Nacht, der Schatten, die Dunkelheit müssen in einem Dorf in Sibirien weitaus mächtiger sein als in einer lichtverschmutzten Großstadt.

Die Schreckgestalt muss Eindruck hinterlassen haben. Die phantastischen Bilder zur Strafe dieses „Buhmanns“, wie er auch genannt wird, mit welchen die Kinder aus den Dörfern zu Bravheit gemahnt wurden, stehen in trauriger Relation zur tatsächlichen Geschichte vieler Russlanddeutscher. Deportation, Verlust eines Zuhauses, Fremdsein sind Themen, die heute, nach Jahrzehnten, von vielen aufgearbeitet werden.

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So beschreibt beispielsweise Herold Belger in seinem 2003 erschienenen Roman „Das Haus des Heimatlosen“ die Deportation der Wolgadeutschen, die Trudarmee und das neue Leben im kasachischen Aul.

Dialekt-Schätze vom Vergessen bedroht?

Einer der Protagonisten des Romans ist Christian, der 1941 aus dem kleinen deutschen Dorf Mannheim deportiert wird. Während quälender Monate in der Trudarmee lernt er „das alte Onkelchen Franz“ kennen: „Onkel Franz hielt für alle Wechselfälle des Lebens einen beneidenswerten Vorrat an banalen Redensarten und Lebensweisheiten parat. Wahllos warf er damit um sich, ob es gerade passte oder nicht, und was die einen der Trudarmisten amüsierte, ging den andern auf den Nerv.“ Christian mag Onkel Franz gut leiden, hört mit Vergnügen dessen „heimatlich klingende Aussprache, seine witzigen Redensarten, Histörchen, Sprichwörter. Des Öfteren dachte er, wenn er nur Papier hätte, würde er den ganzen Schatz wolgadeutscher Folklore, mit dem dieser einstige Kolchosbuchhalter bis obenhin angefüllt war, festhalten.“

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Der alte Onkel Franz ist der personifizierte Sprachschatz der russlanddeutschen Kultur und symbolisiert eine große Ansammlung von lokalen Besonderheiten. In der Bedrängnis wärmt Christian das vertraute Wort – aber ob Franz das Arbeitslager überlebt, ist dem Roman nicht zu entnehmen. An Christian aber, der nächsten Generation, scheint es zu liegen, ob der Alte in Buchstaben und Erzählungen weiterlebt. Dies ist die Aussage des Romans, in welchem Belger scheinbar zwischen den Zeilen zur Wahrung des gemeinsamen, aber versprengten Gedächtnisses aufruft. Als Kind hatte er von seinen Großeltern den hessischen Dialekt gelernt. Später ist er nicht nur als Schriftsteller, vielmehr als „Kulturmittler“ zwischen der kasachischen, russischen und deutschen Sprache in Kasachstan bekannt geworden.

Ein verschriftlichtes Gedächtnis

Was Christian im „Haus des Heimatlosen“ denkt, realisiert Alexander Weiz: Eine Sammlung von Sprichwörtern, Bauernregeln, Reimen, Vokabeln des nach Russland ausgewanderten hessischen Dialekts hat er angefertigt. Aus dem alten Hessen, dem Wolgaraum, Sibirien und Kasachstan stammen die Redewendungen und sprechen damit eigentlich für mehrere Stränge der Geschichte. Aber eben die unterschiedlichen Orte des Einflusses kündigen die russlanddeutsche Kultur als Mischung an, welche sich in der Sprache als Mosaik wiederfindet. Weiz schreibt selbst hin und wieder für die DAZ – meist in russischer Sprache, manchmal auch auf Deutsch – Themen sind seine persönlichen Erinnerungen und russlanddeutsche Traditionen.

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Der DAZ hat er ein großes Dokument zukommen lassen. Es ist auf Deutsch verfasst und wechselt manchmal ins Russische. Beim Lesen lässt das Verständnis bisweilen auf sich warten, die Rechtschreibung ist eigenwillig, da die Bruchstücke nach Mundart notiert sind – Buchstaben fehlen schlichtweg und die Groß– und Kleinschreibung wird quasi komplett ignoriert. Fremde Wörter fügen sich in vertraute Sätze. Weiz zufolge stammen die von ihm notierten Sprichwörter aus seinem Dorf Schöntal, dem heutigen Nowoskatowka in Sibirien. Dort wurde vorrangig der Vogelsberg-Dialekt gesprochen, der aus Hessen importiert worden ist. Weiz‘ Sammlung sei das Resultat zehnjähriger Aufzeichnung und insbesondere seine Mutter und Großmutter seien Lieferantinnen der zahlreichen Redensarten gewesen. Weiz listet Sprichwörter auf, die für sich sprechen. Mit einem hochdeutschen Gehör wird das Lesen zur Entdeckungsreise.

Berliner Schnauze vs. Hessische Mundart

So finden sich in der Sammlung unverkennbare Redewendungen, welche auch im modernen Hochdeutsch nicht fehlen. Das bewährte Sprichwort „Wer nicht will, der hat schon“, notiert Weiz in schmaler Abwandlung als „Was der eine nicht will, für das freut sich der andere“. Wenn ein Berliner Kind auf die Frage „Was soll ich machen?“ neckisch antwortet: „Auf dem Kopf stehen und lachen!“ – so antwortet ein Kind aus Schöntal auf die gleiche Frage frech: „Du kannst dir dein Arsch kratzen und dabei lachen.“ Im Schöntaler Dorf lacht dabei am besten, wer zuletzt lacht – ebenso wie in der Metropole Berlin. Und während bei uns passend gemacht wird, was nicht passt, wird in Weiz‘ Vergangenheit eben gerade gemacht, was nicht gerade ist.

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Redewendungen scheinen sich an ihre Umwelt anzupassen. In extremen Umgebungen – sei es die kasachische Steppe oder die Metropole Berlin – lassen sich nicht alle Redewendungen gleich anwenden, auch wenn scheinbar teilweise die gleichen Bedürfnisse herrschen. Die Russlanddeutschen ermahnen in der sicherlich ernst zu nehmenden Kälte der ländlichen russischen Gebiete Eintretende: „Mach die Tür zu, wir haben nicht den Monat Mai.“ In Berlin hingegen fragen wir salopp: „Bist du in der U-Bahn geboren?“ Die Sprüche drücken zwar das gleiche aus, lassen sich aber wohl kaum miteinander tauschen. Dennoch mutet es vertraut an, diese Sätze im jeweils anderen Kontext zu hören.

Ausgefallene Assoziationen

Doch weitaus mehr bietet Weiz‘ Sammlung: Unbekannte Redewendungen bringen das nicht geübte Ohr zum Stolpern, manches erschließt sich nicht von selbst.

„Er raucht das sich die Ohren krümpeln“, „Der fetten Gans wird der Arsch mit fett geschmiert“ oder „Den letzten beißt der Pudel“ sind Wendungen, die einen gewissen Humor der Schöntaler Dorfbevölkerung vermuten lassen. Es ist nicht die Rechtschreibung, welche hochdeutsch Lesende zunächst zögern lässt – es sind die fehlenden Assoziationen, welche in althergebrachten Redewendungen schon lange geknüpft worden sind, während sie hier noch ausstehen.

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Wölfe und Menschen

Ähnlich verhält es sich mit dem Wolf. Das sagenumwobene Tier, Antagonist vieler Märchen und Schreckensgeschichten, ist auch in der BRD bekannt. Doch im Hochdeutschen macht höchstens der Wolf im Schafspelz noch verbal Angst. In Russland und Sibirien spielt das Raubtier eine ganz andere Rolle als im Herzen Westeuropas – es ist nicht bloß ein Märchen und hat sich auch vermehrt in die Sprache eingeschlichen. Beispielsweise, so erklärt Weiz, wird in Schöntal, wenn jemand nur in Fetzen gekleidet umherläuft, vermutet: „Dich haben wohl die Wölfe angerissen.“

Die Schwierigkeit, alte Gewohnheiten abzulegen, wird mit der nicht zu bändigenden Wildheit des Wolfes verglichen, wenn die Schöntaler sagen: „Den Wolf kann man noch so lange Zähmen, er schaut trotzdem in den Wald.“ Diese Wendung ist ein gutes Beispiel für die Produkte, welche aus der Melange der Kulturen entstehen können. Denn Vorlage für dieses Sprichwort bot die russische Variante, die lautet: „сколько волка не корми, он всё равно в лес смотрит“ – „Wie man den Wolf auch füttert, er wird trotzdem zum Wald hinschauen.“ Im Russischen wird der Spruch häufig mit Treuebruch und Fremdgehen assoziiert. Das Tierische im Menschen klingt an, bleibt jedoch im Symbol des Wolfes verschlüsselt.

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Der Wolf erhält als Symbol eine tiefere Bedeutung, wenn man berücksichtigt, dass eine alte Legende der türkischen Mythologie dem Tier einen Ehrenplatz zuweist: Dem Mythos zufolge stammen die Turkvölker von einer Wölfin ab, die mit einem im Dschungel aufgewachsenen Mann Kinder zeugt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Wolf auch in Kasachstan häufig personifiziert wird. Sprichwörter, die den unzähmbaren Wolf behandeln, sprechen nicht umsonst für den Menschen.

Von großen Kippeln

Und noch etwas fällt auf in den russlanddeutschen Sprichwörtern – sie scheinen ungewöhnlich stark von Exkrementen geprägt zu sein. Ein vielzitierter, nützlicher, wohl aber humorvoll gemeinter Ratschlag im Schöntaler Dorf soll beispielsweise gewesen sein: „Wanste scheißen willst, vergess nicht, die Hose runterzumachen.“ Auch, erklärt Weiz, soll über die „Kippel“ – so übersetzt Weiz einen Haufen oder Hügel metaphorisch als Fäkalien – der Bewohner gesprochen worden sein: „Er legt ein großer Kippel hin, da hopft der größte Soldat nicht drüber.“ Und durch die Tür der besetzten Toilette habe man regelmäßig gerufen: „So lange kann man ja ein Baum raus Scheißen.“

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Die Tendenz des Dialekts zum Exkrement mag für das städtische, hochdeutsche Ohr vielleicht gewöhnungsbedürftig, derb klingen. Doch lässt sich diese Besonderheit in der Sprache vielleicht aus der überlebenswichtigen Funktion der Fäkalien im Dorfleben damals herleiten. Weiz verewigt in seinem Dokument neben der Sprache auch Bräuche des bäuerlichen Lebens – heute scheinbar lange vergessen – und erinnert im Zuge dessen an den Mangel an Holz, unter dem viele Aussiedler, insbesondere nach der Deportation, litten, als die Winter ungewohnt streng wurden.

Mistholz für die kalten Winter

„Von ihren nächsten Nachbarn, den Kasachen – einem Steppenvolk – übernahmen die Deutschen das Verfahren, trockene Kuhfladen (russisch: Kisjak, im hessischen Dialekt: Kuhpladder) zu sammeln und sie als Hausbrand zu verwenden.“ Weiz erinnert sich, an das „Kuhpladder-Sammeln“, welches die Bewohner zur systematischen „Mistholz“-Erzeugung weiterentwickelten – „reiner getrockneter Mist in Form von Briketts, die als Heizmaterial dienten.“ Nur so ließ sich ein kalter sibirischer Winter überstehen. Zwar ist auch das Hochdeutsche eine Fäkalsprache, aber Exkremente nehmen hier eine ganz andere Rolle als im städtischen Leben ein. Und warum sollte die Sprache verschmähen, was überlebenswichtig ist?

Ja, die Sprichwörter sprechen für sich und die Redewendungen wenden das Leben. Alexander Weiz möchte aus seiner Sammlung ein Buch machen. Sein Ziel ist es, all die Besonderheiten seiner Kultur einer jüngeren Generation zugänglich zu machen, um sie nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen.

Eine von Weiz so genannte „Brief Kritzelei“ ist ein kurzer, charmanter Reim, der an das Ende eines Briefes geschrieben wurde. Einen solchen notiert er in seiner Sammlung – und auf seltsame Weise klingt die Kritzelei wie auf das ganze große, wirr zusammengewürfelte Dokument von Weiz selbst bezogen:„Es ist nicht gut geschrieben, aber gut gemeint, meine Hand hat gezittert, das Herz hat geweint.“

Inés Noé nach Alexander Weiz

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