Alexander Weiz begibt sich auf eine persönliche Historienreise, um die Geschichte eines traditionellen Hirtenstabes aus der Vergessenheit hervorzuholen.

Unser Dorf Schöntal – Nowoskatowka unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von anderen sibirischen deutschen Dörfern, die im Süden des Omsker Gebiets zerstreut an der Grenze zwischen der Steppe und den Wäldern liegen. Aber wenn man die russlanddeutschen Sitten und Bräuche aus verschiedenen Regionen vergleicht, so ist nur hier unter anderem ein Ringelstock erhalten geblieben, den die ersten deutschen Siedler dorthin aus Oberhessen mitgebracht hatten. In den anderen Dörfern findet man ihn nicht mehr.

Seine Geschichte beginnt zur Zeit der Zarin Katharina der II. Damals war dieser laut lärmende Hirtenstab mit Eisenringen in Oberhessen sehr verbreitet. Im örtlichen Vogelberger Dialekt nannte man ihn ‚Ringelstecken‘. Aus der Geschichte der Russlanddeutschen ist es bekannt, dass aus dieser Gegend die ersten Deutschen 1764 nach Russland auswanderten. In Hessen selbst fand man den Ringelstock im 20. Jahrhundert nicht mehr, aber in meinem Dorf gab es ihn und er wurde noch in den 70er Jahren vorigen Jahrhunderts dort benutzt. Auch später noch, bis unsere Dorfbewohner in den 90er Jahren zurück nach Deutschland auszusiedeln begannen.

Vor zwei Jahrhunderten kannte ihn auch in Oberhessen jeder. Meine Vorfahren machten sich nach dem zweiten Erlass der Zarin Katharina der Großen vom 22. Juli 1763 aus Büdingen auf den Weg nach Russland und ließen sich im Wolga-Gebiet nieder. Da gab es große Flächen für Viehweiden und der Beruf eines Hirten war gefragt. Ein Hirte trug immer einen Ringelstock, der in Hessen jetzt nur noch in Museen zu finden ist. Ich kenne ihn aber noch aus meiner Kindheit. In unserer Kolchose gab es große Herden mit rotbraunen Kühen, die sehr viel Milch gaben. Wenn der Hirte morgens die Kühe auf die Weide treiben wollte, ging er entlang des Dorfes und machte viel Lärm mit diesem Ringelstock, um den Hausfrauen ein Zeichen zu geben, dass es so weit ist. Er trug seinen Stock in der Hand, oder in der speziell gefertigten ‚Ringelstecke-Schlinge‘, oder befestigte ihn am Sattel, wenn er zu Pferde war. Das Klirren des Stockes sollte das Vieh in Respekt versetzen; nur in seltenen Fällen wurden mit diesem den Kühen oder Ochsen Hiebe versetzt. Man hörte am frühen Morgen das Rasseln von sehr weit her. Der Hirte rasselte nicht nur morgens, sondern auch abends, wenn das Vieh zurück ins Dorf kam. Manchmal schmiss er den Ringelstock auch einer ungehorsamen Kuh an den Kopf und begleitete seinen Gang mit lauten Rufen „Hoj-hoj“.

Die Menschen hörten es, holten ihre Kühe von der Straße ab und brachten sie in den Stall oder banden sie im Sommer auch draußen hinter dem Hof an.

In den Kriegsjahren gab es in Sibirien viel mehr Wölfe als sonst, weil sie sich aus den östlichen Kriegsgebieten dorthin zurückgezogen hatten. Man versuchte sie mit den Ringelstöcken vom Vieh fernzuhalten. Manchmal hörte man die Wölfe ganz nah an den Dörfern fast aus jedem Birkenhain heulen. Die Hirten machten ihnen Angst mit dem Lärm, doch der Hunger machte die Wölfe frech und sie überfielen immer wieder das Vieh und holten sich ab und zu ein Schaf oder eine Kuh.

Auch in Nowoskatowka gab es solche Fälle: Im Sommer 1944 brachte die junge Frau Pauline Leinweber (geb. Ochs) die Schafe auf die Weide und hatte auch so einen Ringelstock dabei. Als ein Wolf eins ihrer Lämmer überfallen wollte, hielt sie es mit einer Hand fest und mit der anderen schlug sie dem Wolf über auf den Kopf. Sie rief so laut um Hilfe, dass ein paar Männer auf Pferden es hörten und ihr zu Hilfe eilten.

Wenn sich das Vieh auf der Weide ausruhte, veranstalteten die Hirten manchmal unter sich Wettbewerbe, wer genauer und weiter seinen Stock werfen konnte. Diese Tradition blieb auch weiterhin sehr lange erhalten. Das hörte ich von den alten Männern aus dem Dorf Jagodnaja Poljana, die auch unser Dorf Nowoskatowka 1906 während der Stolypinschen Reformen gegründet hatten. Ihre Vorfahren waren aus Hessen, aus dem Vogelberger Gebiet dorthin ausgewandert. Sie hatten die Tradition dieses Wettbewerbs in allen Dörfern Sibiriens, wo sie sich niederließen, beibehalten.

So überlebten die Ringelstöcke fast 250 Jahre. Sie wurden im Stall oder in der Scheune aufbewahrt, manchmal auf dem Dachboden. Jetzt gibt es ihn nur noch in Museen. Auch in einem Dorfmuseum in Nowoskatowka und einem anderen, das Reinhold Zielke in Deutschland in Nidda gegründet und der Geschichte seines Dorfes gewidmet hat.

Ich wollte mit dieser Publikation den Ringelstock in Erinnerung rufen, damit man ihn nicht wie einen einfachen Stock behandelt, den man im Ofen verheizen kann. Es wäre schön, wenn er im historischen Gedächtnis der Deutschen weiter leben würde. Wenn auch nur als ein Souvenir und Gegenstand aus einer alten hessischen Hirtentradition.

Der Bericht Karl Kesslers “ Der Ringelstock, ein fast vergessenes Hirtengerät“ (2005, Gesellschaft für Heimatkunde im Westerwald-Verein e.V.) hat mich dazu inspiriert, mein Wissen zum Ringelstecken (Ringelstock) niederzuschrieben, um ihn in Erinnerung zu rufen und damit er im Gedächtnis weiterlebt.

Aphorismus frei nach Alexander Weiz: „Ein Volk, das seine Religion, Sitten und Bräuche achtet, ist auch seelisch satt.“

Alexander Weiz

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