Éric Vazzoler ist französischer Fotograf und Mitglied der Agentur Zeitenspiegel. Seine Leidenschaften sind Reisen, Fotografieren, und anderen das Fotografieren beizubringen. Seine Zielgruppe sind unterprivilegierte Jugendliche und Kinder mit Behinderungen aus den postsowjetischen Ländern. Im Juni war er zum vierten Mal in Kasachstan und führte zwei Workshops in Sarjal und Aralsk, durch. Wir haben mit Éric an einem heißen Juli-Abend vor seiner Abreise nach Frankreich gesprochen.
Herr Vazzoler, Sie waren bereits mehrmals in Kasachstan. Was hat Sie zum ersten Mal hierher geführt?
Zum ersten Mal war ich vor 25 Jahren in Kasachstan. Den ersten Workshop für Jugendliche habe ich in Karaganda vor 20 Jahren organisiert. Karaganda war damals für mich exotisch. Niemand konnte Englisch, und ich war gezwungen, alles allein zu organisieren. Damals habe ich viele Fortschritte in der Sprache gemacht. Die Alliance Française unterstützte mich und half mir dabei, Kontakt zur Nursultan-Nasarbajew-Stiftung aufzunehmen. Diese hat 2017 meinem Projekt für sehbehinderte und blinde Kinder zugesagt. Seitdem organisiere ich jedes Jahr Fotoworkshops in Kasachstan. Wir wählen zweimal 10 Kinder aus einem bestimmten Publikum aus – also insgesamt 20 Kinder –, und jedes Mal finden die Workshops in zwei Städten statt. Das erste Jahr 2017 war es mit sehbehinderten und blinden Kindern in Almaty und Karaganda, 2018 mit geistig behinderten Kindern in Almaty und Astana, 2019 mit Kindern mit Zerebralparese in Shymkent und Temirtau.
Können Sie kurz etwas zu den Projekten sagen, die Sie gerade hier in Kasachstan verfolgt haben?
Da ich ein großes Interesse an der ökologischen Situation in Kasachstan habe, habe ich vorgeschlagen, die diesjährigen Workshops in Sarjal und Aralsk zu veranstalten. Sarjal ist ein kleines Dorf mit 2.000 Einwohnern am Rande des alten Atomwaffentestgeländes in Semipalatinsk (heute Semej), 20 km vom ersten Atomkrater entfernt. Ich war da vorher als Fotograf. In Sarjal waren die Kinder gesund, in Aralsk nahmen Kinder mit leichter bis mittlerer Behinderung teil. Das Projekt in Aralsk hätte lieber im April dieses Jahres stattfinden sollen. Es wäre besser gewesen, weil es in Aralsk im Sommer extrem heiß ist. Die Kinder und ich fühlten uns in der Hitze nicht so wohl. Außerdem wollten wir an den See fahren, aber das hat leider nicht geklappt. Ich hoffe, noch einmal nach Aralsk zu kommen und mit den Kindern den See zu fotografieren.
Alle Kinder fotografieren selbständig. Wir treffen uns ein paar Mal am Tag, ich gebe ihnen eine Einführung, wie die Kamera funktioniert, welche Themen es gibt. Sie bringen ihre ersten Fotos, wir führen sie auf einem Projektor vor, und besprechen, was gut ist, was interessant ist, welche Fehler am besten vermieden werden müssen. Die Kinder kapieren viel und machen schnell Fortschritte. Es gibt auch innere Konkurrenz und das funktioniert gut. Die Kameras verschenkt die Nasarbajew-Stiftung. Die Kinder dürfen sie behalten. Ich glaube aber, sie fotografieren jetzt mit Smartphones. Mit der Kamera achtet man aber auf viele Sachen. Damit kann man lernen, wie man ein Bild gestaltet, was wichtig ist, was Tiefe und Schärfe ist.
Am Ende eines jeden Projekts fahren die Kinder immer in die Hauptstadt. In diesem Jahr sollte eigentlich eine kurze Ausstellung in Nur-Sultan stattfinden. Stattdessen wurde dann beschlossen, die Ausstellung in Almaty zu organisieren. Am Tag davor, als wir hier angekommen waren, wurde aber auch hier leider alles abgesagt. Dabei waren die Kinder über 40 Stunden mit dem Zug von Aralsk hierher gefahren. Zumindest konnten sie sich trotzdem drei Tage hier erholen, wobei das 40 Stunden im Zug in der Hitze auch nicht wettmacht. Die Kinder waren trotzdem total begeistert: Für sie war es die erste Reise, das erste Sommerlager, es gab auch Disko und Schwimmbad.
Wie bauen Sie Vertrauen zu den Kindern auf?
Generell habe ich einen guten Draht zu Jugendlichen. Trotzdem läuft es immer unterschiedlich. Die Kinder mit Blindheit und Sehbehinderung in Karaganda oder in Almaty waren 15 bis 17 Jahre alt, konnten Russisch auf jeden Fall besser als ich. Trotz der Behinderung war der Kontakt super. Die Kinder aus Sarjal dagegen waren 11 bis 12 Jahre alt, und obwohl sie mich schon kannten, waren sie sehr schüchtern. Außerdem war es hier mit der Sprache etwas schwieriger. Es gab immer Betreuer, die auch mit der Übersetzung halfen.
Auf jeden Fall versuche ich immer, die Kinder von meinen früheren Workshops wieder zu treffen. Ich bleibe in Kontakt mit den sehbehinderten Kindern von Karaganda und den geistig behinderten Kindern von Almaty. Auch bin ich mit der Gründerin des Kenes-Zentrums sehr gut befreundet, und ich habe sie auch in diesem Jahr getroffen. Das ist das Plus an meinen Projekten. Ich weiß, dass ich wiederkomme.
Wie sind Sie zu der Idee gekommen, Kinder, die nicht sehen können, das Fotografieren beizubringen?
Die Idee mit den sehbehinderten Kindern ist gar nicht originell. Es ist schon relativ klar, dass es blinde Fotografen gibt, und niemand ist überrascht, dass Blinde fotografieren können. Das erste Projekt mit blinden Jugendlichen habe ich 2011 in Polen organisiert. Die Menschen mit Sehverlust fotografieren wahrscheinlich anders als wir, aber ziemlich gut. Einige sehbehinderte Menschen konnten früher sehen und sehen bis jetzt noch etwas, andere haben nie gesehen. Es gibt viele Arten, wie sie die Umgebung spüren, sie ohne Augen sehen. Jeder und jede bringt ihre eigene Erfahrungen ein. Die blinden Kinder halten die Kameras immer gerade, entweder vor der Stirn oder neben dem Ohr. Es gibt keine Fotos, die schief sind. Außerdem haben moderne Kameras Autofokus. Manchmal sind Gesichter geschnitten oder es gibt komische Sachen, aber die Zuschauer können was daraus lernen.
Es gibt eine Art Konkurrenz zwischen sehbehinderten und blinden Kindern, die sehr positiv im Kreativitätsprozess ist. Die sehbehinderten Kinder bemühen sich, grob gesagt, mehr oder weniger wie die Sehenden zu fotografieren, und die blinden Kinder bemühen sich mit anderen Sinnen (natürlich in absoluter Wachsamkeit), wie die anderen Sehbehinderten zu fotografieren. Sie sind so begeistert, dass sie mitmachen dürfen.
Sie waren vorher schon für Projekte in der Ukraine. Woher kommt das Interesse an der ehemaligen Sowjetunion und an der russischen Sprache?
Ich interessiere mich seit meiner Jugend für Länder, die geschlossen oder nicht so zugänglich sind, und die unsere Medien eher negativ beleuchten. Fokussiert habe ich mich auf die ehemalige UdSSR. Russisch ist eine Sprache, die von Litauen bis zur Mongolei und Usbekistan gesprochen wird. Ich habe Russisch an der Uni gelernt, aber schnell aufgehört. Nach der Perestroika habe ich entschieden, es wieder zu studieren. Damals gab es plötzlich die Möglichkeit, dorthin zu reisen. Und es gibt so viel zu erfahren und zu lernen auf einem so großen Gebiet wie der ehemaligen UdSSR.
Ich bin als Künstler viel in Russland, Kasachstan, Kirgisistan und der Ukraine umhergereist und mache seit 2001 Projekte mit Jugendlichen. In Donezk hatte ich im Februar 2015 einen Workshop mitten im Krieg. Die Jugendlichen haben – unter vielen anderen – Krankenschwestern zum Frauentag fotografiert. Damals waren alle Zimmer im Krankenhaus mit schwerverletzten Separatisten besetzt.
Was sind Ihre nächsten Pläne?
Wir reden jetzt schon über die künftigen Projekte in Kasachstan. Aber es ist früh zu sagen, mit welchem Publikum und ob diese Projekte überhaupt stattfinden werden. Mein nächstes Projekt in Europa findet ab Herbst statt: drei Workshops mit sehbehinderten und blinden Jugendlichen in Straßburg, Stuttgart und Lodz.
Sooo berührend Deine Fotoprojekte mit Kindern und Jugendlichen – so eindrucksvoll der Film über Das Projekt in der Ukraine … Kunst, mittendrinn im Leben !!! heilsam verbindend …
Ich habe Freunde in der Ukraine und ich hoffe, daß ich Ihnen von Deinen Projekten berichten kann.
Alles Gute und noch viele inspirierende und hoffnungsvolle Begegungen zwischen unseren Kulturen !!!
Barbara aus Wangen im Allgäu/Deutschland