„Wenn du eine Reise tust, dann kannst du was erleben!”, so sagte meine Großmutter immer. Und weil Großmütter meistens Recht haben, stimmt auch dies.

Besonders, wenn eine Reise zwei Jahre lang dauert. Was ich denn alles in den zwei Jahren Russland erlebt habe, wollen nun viele wissen. Tja, wie soll man das beschreiben? Zu viel strömt auf mich ein, wenn ich zurückdenke. Bilder, die ich nur vage beschreiben kann, meist Gefühle. Und die vielen kleinen Alltäglichkeiten, wo soll man da nur anfangen und es jemandem erklären, der das Land noch nie besucht hat? „Der Teufel steckt im Detail”, wußte meine Großmutter. Aber auch die Freude, möchte ich hinzufügen. Eine Situation voller schöner Details, an die ich mich besonders gern erinnere, trug sich in einer russischen Schule in Wladiwostok zu. Um die deutsche Kultur in die Schule zu tragen, spielen wir ein Potpourri aus deutschen Märchen, so dachte ich mir. Ich bastelte einen Text zusammen, in dem allerhand Märchenfiguren vorkamen. Ich würde die Handlung erzählen, die Schüler spielen dazu. Die Texte würden sie von großen Pappkarten ablesen. Das Prinzip war klar, es konnte losgehen. Und das ging so: Alles fing mit dem Verteilen der Kostüme an. Die Königinnen-Kronen zum Schluss, damit überhaupt noch jemand Zwerg werden wollte. Klappte auch so weit, aber sobald die Kronen in Sicht kamen, wollte dann doch kaum jemand mehr Wald werden. Vor allem die jungen Damen wollten AUF GAR KEINEN Fall einen Laubkranz auf ihr hübsches Haupt setzen. Aber schließlich fanden sich dann doch noch einige Bäume, und es konnte losgehen. Ging auch einigermaßen, mit Improvisationen. So blieben u.a. die Bäume nicht auf ihrem Platz stehen und wuselten munter umher, so dass schließlich nicht der allzu schüchterne Prinz im Wald umherlief und sich verirrte, sondern der Wald um den Prinz herumlief und ihn damit verwirrte. Aber egal, das Ergebnis stimmte, wenn man nicht allzu pingelig ist. Auch der Wolf fand sich prima in seiner Rolle zurecht, er knurrte nicht nur, sondern heulte gar und wollte auch nicht mehr damit aufhören. Aber Wolfsgeheul kann man ja immer gut gebrauchen. Auch der Wind tat sein Bestes, er pfiff nicht nur, sondern angeregt vom Wolfsgeheul, heulte auch er. Und damit war noch nicht Schluss mit der Heulerei, geheult wurde auch im Publikum. Weil nämlich die Lehrerinnen nicht schnell genug damit waren, die Luftballons zu verteilen. Dann ging es so weiter im munteren Gewusel, man spielte schließlich zu mir hin, die ich eigentlich aus dem Hintergrund lesen wollte, und kehrte so dem Publikum automatisch den Rücken. Aber macht nix, Hauptsache auf der Bühne machte es Spaß. Und das tat es offenbar. Besonders den Bäumen. Die beinahe alles mitspielten, was es zu spielen gab. Nur gegen Ende gab es Verzögerungen, als sich nämlich der Prinz nicht in das Rotkäppchen verlieben wollte. Das war aber wichtig, damit es ein großes abschließendes Hochzeitsfest auf königlichem Hofe geben konnte. Auf dieses Fest wollten aber die Zwerge, der Wald, Wind und alle anderen Gestalten auf keinen Fall verzichten, und so halfen sie mit akzeptabler Gewalt nach. Schön war es. Aber ob das jetzt typisch russisch sei, mag sich mancher fragen. Nun, ich weiß es nicht. Aber eines ist klar: Solch eine Situation habe ich bisher nur in Russland erlebt.

Von Julia Siebert

10/02/06

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