Aus Deutschland kommend erlebe ich die kasachischen Menschen als gastfreundlich, interessiert und offenherzig. So kommt es, dass ich häufig mit Menschen auf der Straße ins Gespräch komme. Frage ich Bekannte oder Fremde um einen Gefallen, kann ich mir sicher sein, dass ich Hilfe erhalte. Häufig wird mir darüber hinaus sogar Unterstützung, mit der ich nicht rechne, angeboten.

Qonaqzhailyq als Erbe der Nomadenkultur

Immer wieder habe ich mich gefragt, woher diese Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft kommen. Schließlich erklärt mir jemand, dass Gäst*innen in der kasachischen Kultur als Gesandte Gottes gälten. Im Anschluss daran lese ich, dass die sogenannte „qonaqzhailyq“, die kasachische Gastfreundschaft, tief in der Nomadenkultur verankert sei. Egal, ob eingeladen oder nicht, Gäst*innen würden stets mit offenen Armen, Speisen und Tee willkommen geheißen. Aufgrund des herausfordernden Steppenlebens sei man über Jahrhunderte hinweg auf die Hilfsbereitschaft anderer und auf gegenseitige Unterstützung angewiesen gewesen.

Diese Gastfreundschaft und der generelle gemeinschaftliche Umgang miteinander sind noch heute spürbar. Das hilft in Notsituationen, aber auch gegen die Einsamkeit in einem neuen Umfeld. Geht man in Almaty abends in eine Bar passiert es regelmäßig, dass man sie mit neu geschlossenen Freundschaften wieder verlässt und das auch ohne Sprachkenntnisse. Sei es durch Englisch oder einen Online-Übersetzer, es lassen sich Wege finden.

Allein unter Vielen: Der Preis des deutschen Individualismus

Mir wird in solchen Situationen bewusst, wie individualistisch und unpersönlich die deutsche Gesellschaft dagegen ist. In Deutschland ist man sehr darauf bedacht, im persönlichen Leben und den eigenen vier Wänden ungestört zu bleiben. Es gibt eine Nacht- und Mittagsruhe, die genau eingehalten wird. Nach dem Gehalt fragt man nicht, da es als zu persönlich gilt. Auch die Zahl der Alleinlebenden steigt. Laut dem statistischen Bundesamt lebt 2025 mittlerweile jede fünfte Person in Deutschland allein. Das ist deutlich über dem EU-Schnitt.

Diese Tendenz zur Individualisierung bringt Vor- und Nachteile mit sich. Ungestört zu sein, kann eine große Freiheit bedeuten und es ermöglichen, sich nach eigenem Belieben den eigenen Bedürfnissen entsprechend frei zu entfalten. Gerade große deutsche Städte wie Berlin sind für viele Menschen Zufluchtsorte, um ungeachtet gesellschaftlicher Zwänge zu leben. Das ist eine wichtige Errungenschaft.

Der deutsche Individualismus kann aber auch vereinsamen. Der jährliche Einsamkeitsbericht der technischen Krankenkasse aus dem Jahr 2024 belegt, etwa 60% der Menschen in Deutschland kennen das Gefühl der Einsamkeit. Das geht auch mit dem demographischen Wandel und dem zunehmenden Alleinleben älterer Menschen einher. Jedoch sind gerade auch Junge in steigender Tendenz davon betroffen. Der Umzug in eine neue Stadt, das Beenden der Schule oder der Berufseinstieg – in all diesen Situationen brechen alte soziale Umfelder weg. Eine individualistische Gesellschaft wie die deutsche kann da das Schließen neuer Bekanntschaften erschweren.

Natürlich begegnen einem auch in Köln, Hamburg, Berlin, in deutschen Kleinstädten und Dörfern Gastfreundschaft, offene Menschen und neue Freundschaften, aber der Weg dahin ist teilweise länger als in Kasachstan. Vielleicht kann Deutschland in der Hinsicht etwas von den kasachischen Nomaden lernen. Insbesondere als Einwander*innenland und Zielland vieler geflüchteter Menschen kann Gastfreundschaft und gegenseitige Unterstützung ein Schritt Richtung gemeinsamer Zukunft sein. Wie schön wäre es, wenn man jeden mit derselben kasachischen Herzlichkeit empfangen würde. Das ist auch möglich, ohne den eigenen Individualismus aufgeben zu müssen. Denn wie das Leben in der Steppe kann auch das in einer deutschen Großstadt oder auf dem Dorf für Deutsche wie für Neuankömmlinge ein wilder Ritt sein, den man besser gemeinsam als allein bestreitet.

Leonore Franz

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