Eine gefährliche Seuche bahnt sich unaufhaltsam ihren Weg durch die zentralasiatischen Staaten: AIDS. Lange Zeit ist die Mitte Asiens vom HI-Virus verschont geblieben. In den letzten Jahren breitete sich die Epidemie jedoch mit dramatischer Geschwindigkeit aus. Kasachstan ist dabei einer der am schlimmsten betroffenen Staaten.

„Natürlich habe ich Angst vor AIDS!” Das sagt Olga – 19 Jahre und Prostituierte in der Sain-Straße in Almaty. Ihr Blick wandert nervös zum dunklen Dickicht auf der anderen Straßenseite. Im schummrigen Laternenlicht laufen junge Mädchen in kurzen Röckchen und hochhackigen Stiefeln zwischen parkenden Autos mit getönten Scheiben umher. Es ist kalt in dieser Nacht: minus zwanzig Grad. Die bunten Neonreklamen der Nachtclubs blinken grell und werfen grüne und rote Lichtflecken auf die vereisten Gehwege. „Mein Wunsch für die Zukunft?” Olga zuckt mit den Schultern, ein rötlicher Schimmer durchzieht das Weiß in ihren Augen. „Was soll ich anderes machen? In diesem Job verdiene ich nun mal das meiste Geld.” Und das braucht die junge Kasachin dringend, um sich und ihr neun Monate altes Baby über Wasser zu halten. Einen Mann gibt es nicht in Olgas Leben. „Der hat sich gleich nach der Geburt aus dem Staub gemacht.” Die Geschichten vieler Prostituierter auf der Sain-Straße ähneln sich. Sie brauchen Geld, sie sehen keine Perspektive, und obwohl die Angst vor dem tödlichen Virus groß ist, steigen sie Nacht für Nacht in die dunklen Autos, ohne zu wissen, was sie im Innern erwartet.

Rasend schnelle Ausbreitung

Prostitution ist nur eine der vielen Ursachen, die die Verbreitung des gefährlichen HI-Virus beschleunigen. „Rund 80 Prozent der HIV-Infizierten in Kasachstan sind Fixer, die sich regelmäßig Drogen spritzen”, so Marty Bell, Leiter der amerikanischen Hilfsorganisation „Population Services International” (PSI) in Zentralasien. „Das Virus wird durch infizierte Nadeln übertragen, die die Junkies aus Kostengründen gemeinsam benutzen.” Noch konzentriere sich die HIV-Epidemie auf kommerzielle Sexarbeiter und Drogenabhängige, doch das Virus beginne bereits, auf die Allgemeinbevölkerung überzuspringen. In Osteuropa und Zentralasien sei HIV später aufgetreten als in allen anderen Weltregionen. Nach der Zerstörung der alten sozialen Normen und mit den wachsenden Ungleichheiten in der Gesellschaft seien besonders Jugendliche ins Drogenmilieu geschlittert. Auch Nicolas Cantau, zentralasiatischer Leiter der Hilfsorganisation „AIDS-Foundation EastWest”, äußert sich besorgt über die aktuelle Situation in Kasachstan. „Das Virus fängt an, sich auszubreiten. Besonders betroffen sind junge Menschen; 90 Prozent der HIV-Infizierten sind zwischen 15 und 29 Jahre alt.” Laut offiziellen Angaben des Nationalen AIDS-Zentrums Kasachstans waren im Januar 2005 knapp 6.000 Personen mit HIV registriert, 332 davon hatten AIDS. Während des letzten Jahres infizierten sich fast tausend weitere Menschen mit HIV, hundert neue AIDS-Fälle wurden offiziell bekannt gegeben. 12.582 Personen sind laut Angaben der AIDS-Zentren in ganz Zentralasien mit dem tödlichen HI-Virus infiziert.

Dies sind jedoch nur die offiziellen Zahlen. Cantau ist überzeugt, dass die tatsächliche Anzahl HIV-positiver Menschen in Kasachstan und in Zentralasien um einiges größer ist. „Die Zahl der Infizierten liegt mindestens fünfmal höher.

Gesundheitliche Katastrophe

Die Dunkelziffer ist enorm. Wenn sich Betroffene offiziell registrieren lassen, führt dies fast immer zur Stigmatisierung und zum Ausstoß aus der Familie und dem Bekanntenkreis. Daher bleiben viele Betroffene lieber anonym.“ Mit dieser Meinung steht der Franzose nicht alleine da, auch Lejla Kouschenowa, Leiterin von PSI in Kasachstan, ist sich sicher: „Allein hier in Kasachstan liegt die Anzahl der HIV-Infizierten bei mindestens 16.000 statt der nach außen dargestellten knapp 6000 Betroffenen.”

Äußerst gefährlich ist, laut Marty Bell, die rasend schnelle Ausbreitung des Virus: „HIV verbreitet sich in Zentralasien und Osteuropa so schnell wie sonst nirgendwo auf der Welt. Gerade in Kasachstan ist die Zuwachsrate höher als in allen vier anderen zentralasiatischen Staaten zusammen.” Besonders betroffen seien die Regionen um Almaty, Karaganda, Pawlodar, Kostanai und Uralsk. In Almaty tragen nach Angaben des Staatlichen AIDS-Zentrums 800 Personen den tödlichen Virus in sich. Wie hoch die Zahl tatsächlich ist, darüber gibt es nur Spekulationen. Sicher sei jedoch, so Cantau, dass sich die Lage in allen Ländern Zentralasiens dramatisch zuspitze. Viele Experten prophezeiten für die Zukunft eine Entwicklung wie in Südafrika mit Hunderttausenden von Toten.

„Wir müssen unbedingt verhindern, dass in Kasachstan die gleiche Situation eintritt wie in der Ukraine oder in Russland”, so Cantau. Vor fünf Jahren habe die Ukraine eine ähnliche Anzahl HIV-infizierter Menschen gehabt wie Kasachstan. Rund 0,2 Prozent der 15- bis 49-Jährigen trugen damals den HI-Virus in sich. „Heute liegt die Zahl bei über 1,5 Prozent, das ist eine gesundheitliche Katastrophe. Wir müssen die Epidemie unbedingt im Griff behalten und die weitere Ausbreitung verhindern!” Und Cantau weiß, wovon er spricht. Der Leiter der „AIDS-Foundation EastWest” hat bereits mehrere Jahre in Russland gearbeitet. Damals habe die Regierung viel zu wenig Geld investiert, um gegen die Verbreitung der Epidemie vorzugehen. Jetzt stünde der Staat vor einer enormen ökonomischen Belastung. „Die Gesundheitssysteme befinden sich noch im Umbruch, und es werden riesige Geldsummen für die Behandlung der Erkrankten benötigt.”

In Zentralasien gibt es seit fünf Jahren Regierungsprogramme, die gezielt Maßnahmen gegen HIV unterstützen. So existieren in Kasachstan 22 nationale AIDS-Zentren, die über das ganze Land verteilt sind. Derzeit werden pro Jahr gut zwanzig Millionen Dollar für die AIDS-Prävention ausgegeben – Mittel, die größtenteils aus dem „Global Fund” (GF) stammen. Dieser wurde speziell zur Förderung von Anti-AIDS-Programmen von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen und unterstützt 314 Projekte in 128 Staaten. „Problematisch wird es, wenn die Gelder des Fonds für Kasachstan auslaufen. Ich kann nur beten, dass die kasachische Regierung die Gefahr des Virus erkennt und auch in Zukunft genügend Mittel für die Bekämpfung der Epidemie einsetzt“, so Cantau.

NGOs im Kampf gegen HIV

„Wir möchten die Lebensqualität der Menschen verbessern, die bereits mit dem HI-Virus infiziert sind”, so Nupali Amaischossow, Gründer des Netzwerks „Vereinigung AIDS-kranker Menschen”. In dem Gemeinschaftsprojekt mehrerer NGOs arbeiten HIV-Positive in leitenden Positionen. „Das macht den Erkrankten Mut und zeigt, dass das Leben trotz der Infektion noch etwas wert ist“, meint Amaischossow. Seit dem ersten Februar diesen Jahres gibt es in Almaty, auf Initiative des NGO-Netzwerkes, die erste Selbsthilfegruppe AIDS-kranker Menschen. Auch PSI engagiert sich im Kampf gegen HIV/AIDS – allerdings eher im Bereich der Prävention. „Wir haben derzeit mehrere Projekte am Start”, meint Marty Bell. „Unsere Haupttätigkeit besteht in der Verteilung von kostenlosen Kondomen an die Prostituierten in Almaty, Karaganda, Taraz und Pawlodar. Zusätzlich können Jugendliche bei unseren Anlaufstellen zu niedrigen Preisen Verhütungsmittel kaufen. Dieses Angebot wird in der letzten Zeit immer mehr in Anspruch genommen.” Außerdem werden Trainingsseminare für Jugendliche veranstaltet. „Es geht in erster Linie darum, die Einstellung der jungen Menschen zu ändern. Sie müssen darüber informiert werden, wie gefährlich ungeschützte sexuelle Kontakte oder das Benutzen derselben Drogenspritze wirklich ist”, so Kouschenowa. Im Büroraum von PSI hängen Stadtpläne von Almaty mit unterschiedlich eingefärbten Straßenzügen. Hier kann man genau sehen, wo sich die potenziell gefährdetsten AIDS-Bezirke im Stadtgebiet befinden. Speziell ausgebildete Straßenarbeiter der Organisation machen sich fünfmal pro Woche, bepackt mit großen Taschen voller Kondome, auf den Weg zum nächtlichen Straßenstrich. Man kennt sich bereits – Streetworker und Prostituierte – und manch eine der jungen Damen in der Sain-Straße winkt den unauffällig gekleideten Gestalten mit den dunklen Stoffbeuteln freundlich zu. „Sie sind dankbar, dass wir ihnen kostenlos Verhütungsmittel geben”, meint die Leiterin der Straßenarbeiter von PSI. „Und manch eine der Frauen kommt am nächsten Tag zu unserem Beratungszentrum und lässt sich auf HIV testen. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.”

Auch die Organisation „AIDS Foundation EastWest“ unternimmt einiges, um gegen das Virus vorzugehen. „Die Öffentlichkeit schaut immer nur nach Afrika. Dass auch die zentralasiatischen Staaten und Osteuropa ein riesiges HIV-Problem haben, hat man lange Zeit ignoriert”, ärgert sich Nicolas Cantau.

Bedrohliche Zukunftsprognose

Auch Olga bekommt regelmäßig von den Straßenarbeitern Almatys Besuch. Schlotternd verlagert sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. „Ich mag die Frauen der NGOs, es ist gut, dass sie kommen und mit uns sprechen. Die meisten Menschen betrachten uns als Abschaum – als Makel der Gesellschaft. Die Streetworker jedoch sorgen sich wirklich um uns und um unsere Gesundheit. Das ist ein gutes Gefühl.” Assija Kunkajewa, Leiterin der Straßenarbeiter in Almaty, kennt fast alle jungen Frauen in der Sain-Straße. Jeden Montag ist sie auf dem Strich unterwegs, berät, klärt auf und verteilt kostenlos Kondome. Sicher bewegt sie sich zwischen dunklen Autos und feilschenden Freiern. Mit ruhiger Stimme spricht sie mit den Prostituierten. Ob ihre nächtlichen Streifzüge bereits Erfolge zeigen, kann sie nicht sagen. Doch eines weiß sie ganz genau: „Ich möchte mir nicht in ein paar Jahren vorwerfen müssen, dass ich von der bedrohlichen HIV-Situation wusste, aber tatenlos zugeschaut habe. Die Seuche breitet sich rasend schnell aus. Wir müssen handen, bevor es zu spät ist!”

Von Angela Lieber

17/02/06

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