Unseren Kolumnisten hat die Liebe nach Kasachstan verschlagen. Nun lebt er als deutscher Expat in Almaty. Zurzeit weilt er jedoch bei seiner Familie in Deutschland, wo er sich auf Spurensuche nach der russischen Vergangenheit seiner Heimatstadt begibt.
„Fahren Sie nach Kissingen“, begann der Doktor, „verleben Sie dort den Juni und Juli. Trinken Sie aus den dortigen Brunnen!“ Diesen guten Rat bekam der Müßiggänger und Faulenzer Oblomow im gleichnamigen Roman aus dem Jahre 1859 von seinem Hausarzt. Der Taugenichts ging als mahnendes Beispiel des faulen russischen Adligen in die Literaturgeschichte ein. Kissingen besuchte Oblomow nie – im Gegensatz zu Tausenden anderer edler russischer Herrschaften, die hier ihre Sommerfrische verbrachten und aus dem Brunnen tranken.
Meine Heimatstadt, das weltberühmte Staatsbad Bad Kissingen erschien mir in meiner Jugend wie ein verschlafenes, langweiliges Provinzkaff am Rande der Rhön. Ich zog in die Welt. Seitdem sind viele Jahre vergangen. Ich bin zurück, etwas weniger naiv und juvenil leichtsinnig. Dafür gebildet in den feinen Künsten von Paris, Venedig und Sankt Petersburg, mit großem Interesse an Geschichte und Politik. Zeit, etwas genauer auf die alte Heimat zu blicken.
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Seit der Anbindung an die Eisenbahn im Jahre 1874 fuhren Züge vom russischen Zarenhof in St. Petersburg direkt nach Bad Kissingen und die Bedeutung des Städtchens wuchs rasant. Mitglieder russischer wie europäischer Adelshäuser, militärische Eliten, Schriftsteller und Wissenschaftler gaben sich hier während ihrer Genesung die Klinke in die Hand. 1907 kam von 28.171 Kurgästen ein Siebentel aus Russland. Bemerkenswert – hatte das Örtchen zu dieser Zeit gerade einmal um die 5.000 Einwohner.
Zar Alexander II. weilte mit seiner Familie zwei Mal, 1864 und 1868, zum Kuraufenthalt in Bad Kissingen, woher die Popularität des Kurbades in der russischen Aristokratie reichte. Die vielen russischen Gäste bekamen 1901 ein eigenes, zu Ehren Zar Nikolaus II. geweihtes, orthodoxes Gotteshaus: die Kirche des Sergius von Radonesch.
Die Zeiten, als sich hier Könige, Zaren, Prinzessinnen und Politiker der höchsten europäischen Kreise gegenseitig die Promenadenwege streitig machten, sind allerdings vorbei. Zeiten, als der eiserne Kanzler Otto von Bismarck genau hier 1874 ein Attentat überlebte, mit der „Kissinger Politik“ das Deutsche Reich lenkte und seine chronische Fettleibigkeit mit Bismarck-Heringen kurierte. Oder als der amerikanische Industrielle Louis Stern beim Tanz in den Kissinger Kurhallen 1895 dem Bäderkommissar Baron von Thüringen Ohrfeigen androhte und einen handfesten diplomatischen Skandal mit den USA vom Zaun brach. Auch der Jet-Set der Nachkriegszeit liegt weit zurück, als illustre Gestalten wie der thailändische König Bhumibol mit seiner mondänen Ehefrau Königin Sikirit oder der erste Mensch auf dem Mond, Neil Armstrong, zu Staatsbesuchen aufwarteten.
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Wie seine Memoiren verraten, musste Wladimir Nabokow, zeitlebens leidenschaftlicher Schmetterlingsforscher, während eines Aufenthaltes mit seiner Familie in Bad Kissingen im Jahre 1910 Tragisches erleben. Sein Vater zügelte den verletzlichen, 11-jährigen Jungen während der Promenade: „Komm auf jeden Fall mit, aber jage keine Schmetterlinge, Kind. Es stört den Rhythmus des Spaziergangs!“ Über den Besuch Leo Tolstois im Jahre 1860 hingegen ist wenig bekannt. Verbürgt ist allerdings, dass der Graf, 32 Jahre alt, noch bevor er seine Meisterwerke der russischen Literatur schrieb, sich brennend für die Frage des Dorflehrers interessierte, ob man denn auf einer oder zwei Linien schreiben solle. Tolstoi stellte diese pädagogischen Beobachtungen in ebenjener Dorfschule an, in welcher ich selbst Schreiben auf zwei Linien mühsam erlernen musste.
Heutzutage ist es ruhig und beschaulich am Ufer der fränkischen Saale. Die Brunnenhallen und Konzertsäle im Kurviertel zeugen vom Glanz vergangener Tage. Das Jahr 1914 hat die politischen Verhältnisse auf der europäischen Landkarte hinweggefegt, altehrwürdige Königshäuser ins Verderben gestürzt und politische Bündnisse zerworfen. Russische Adlige waren hier seitdem nicht mehr gesehen worden. Bei den zahlreichen weltpolitischen Absurditäten, Kuriositäten und Schrulligkeiten in der Stadtgeschichte aber gebe ich mich dem Schlendrian dieser heiteren Kurstadt und meiner Heimat Bad Kissingen mit Verzückung hin. Es sei schließlich im Sinne der Bildung und der Gesundheit!