Seit fünf Jahren kümmert sich die NGO-basierte Klinik in Astana um die Gesundheitsversorgung sozialer Randgruppen. Wegen der positiven Ergebnisse beteiligt sich nun auch das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales an dem zunächst misstrauisch behandelten Projekt
Aus dem niedrigen Raum im Keller des Gesundheitszentrums „Demeu“ dringt mehrsprachiges Stimmengewirr. Es ist kurz vor neun – die Teilnehmer, Ärztinnen und Sozialarbeiterinnen aus Astana, Semipalatinsk und Uralsk und die Seminarleiter, Freiwillige der Organisation Volonteers Service Oversees (VSO) aus Großbritannien und den Philippinen, nehmen ihre Plätze ein. Drei Tage Seminar, vollgepackt mit Vorträgen, Rollenspielen und interaktiven Diskussionen liegen vor ihnen. Der Weg, den die Modellklinik für Familienmedizin „Demeu“ in Astana bereits hinter sich hat, liegt noch vor den Kolleginnen aus Semipalatinsk und Uralsk.
Im Jahr 1999 kam die Partnerschaft mit dem Mercy Health System Pittsburgh zustande, berichtet Kairat Dawletow, der Projektkoordinator von der American International Health Alliance (AIHA). 2000 wurde das „Demeu“ Gesundheitszentrum als Zentrum für Familienmedizin eröffnet. „Demeu“ ist das Ergebnis einer AIHA unterstützten Partnerschaft zwischen den Gesundheitsbehörden der Stadt Astana und einer Koalition von Gesundheitszentren und Kliniken aus Pennsylvania, allen voran das Mercy Health System Pittsburgh. Ziel in „Demeu“ ist eine möglichst effektive Integration von medizinischer Versorgung mit Sozialarbeit, die besonders auf die Bedürfnisse von Risikogruppen in der Bevölkerung wie alte Menschen, Kinder, Erwachsene mit chronischen Krankheiten, Drogenabhängige und kommerzielle Sexarbeiterinnen zugeschnitten sind. Das vielseitige Team von „Demeu“ besteht aus Ärzten, Krankenschwestern, Sozialarbeitern und Aktiven von Nichtregierungsorganisationen.
Zu Beginn der Arbeit von „Demeu“ seien die Widerstände groß gewesen, betont Rosa Absalowa, die leitende Ärztin in „Demeu“. Schließlich habe es mit solchen Kliniken in der GUS noch keinerlei Erfahrung gegeben. Doch der Erfolg der Modellklinik hat die leitenden Behörden überzeugt. Im Dezember 2004 unterzeichneten die Ministerien für Gesundheit, Arbeit und Soziales ein Abkommen mit der AIHA, welches eine Verpflichtung dieser Parteien zur Zusammenarbeit und zum Engagement für die Stärkung der Familienmedizin festschreibt. Verwirklicht wird dieses Ziel durch die Einführung einer an den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung ausgerichteten Modellklinik für die medizinische Versorgung (community-oriented primary care model, COPC) in verschiedenen Regionen Kasachstans.
Mit der Arbeit von „Demeu“ hat sich die Gesundheitsversorgung in Astana spürbar verbessert. Dies zeigten Indikatoren zur Beurteilung der Gesundheit der lokalen Bevölkerung. Die Ergebnisse überzeugten und die betroffenen Ministerien beschlossen die Ausweitung dieses Klinikmodells – einschließlich finanzieller Förderung, zunächst nach Semipalatinsk und Uralsk, später auch nach Kokschetau und Südkasachstan.
Bei den Angeboten von „Demeu“ stehen an erster Stelle die kostenlose medizinische Versorgung, Konsultationen von Psychologen und Sozialarbeitern, die Hilfe von Freiwilligen. Dazu kommen Informationsveranstaltungen für Kinder und Jugendliche mit speziellen Bedürfnissen, kostenlose Seminare zur Selbsthilfe und die gegenseitige Unterstützung von Betroffenen. „Demeu“ beherbergt zahlreiche Clubs und Initiativen wie „Sichere Kindheit“, „Altern in Würde“, ein Hilfezentrum für Drogenabhängige mit Spritzentausch.
Ein vielfältiges Angebot macht die NGO „Umai“. Ziel der 2002 gegründeten NGO ist es, medizinische, soziale, psychologische und juristische Hilfe anzubieten. Im März 2003 wurde der medizinisch-soziale Dienst zur Unterstützung der sozial schwachen Schichten der Bevölkerung ins Leben gerufen. Im Mittelpunkt der Aktivitäten stehen die Erhaltung der Gesundheit, soziale Adaption, psychologische Unterstützung und Selbstverwirklichung mittels Konsultationen für Betroffene, Individial- oder Gruppengespräche über gesunde Lebensführung, Safer sex, Familienplanung, sozial-psychologische Trainingsveranstaltungen, ein Telefon des Vertrauens, Hausbesuche bei Behinderten und Drogenabhängigen, die Vorbereitung von Freiwilligen aus der Bevölkerung, eine Behindertenwerkstatt, juristische Konsultationen, die Organisation von kulturellen Veranstaltungen, Computerkurse, die Erstellung von Infomaterialien für die Bevölkerung – um nur einige Beispiele zu nennen.
Seit 1999 arbeitet die Freiwilligenorganisation Volonteers Service Oversees (VSO) in Kasachstan. Ihr Ziel ist es, in Zusammenarbeit mit Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu unterstützen, wie Frauen und Kinder, besonders solche mit Behinderungen, und Menschen die verstärkt der Gefahr einer HIV-Infektion ausgesetzt sind oder Arbeitslose. Voraussetzung für die Zusammenarbeit sind Bereitschaft und Offenheit für Veränderung, Verbesserung und Unterstützung sozialer Angebote, zur Förderung lokaler communities, zur Erhöhung der Beschäftigung und zur Steigerung von Einkommensmöglichkeiten. Diese Ziele sollen durch die Promotion von Selbsthilfe und durch um das Individuum zentrierte Ansätze sowie für Behinderte durch integrative und partizipatorische Ansätze erreicht werden.
Seit September 2004 arbeitet Kevin Barnes-Ceeney aus Wales in „Demeu“. Sein Aufgabenfeld umfasst Weiterbildungen für Sozialarbeiter und zukünftige Sozialarbeiter. Er hält zahlreiche Vorträge an Schulen und Universitäten und im Department für Soziales über Safer Sex, Alkohol, Drogen und Grundfragen der Sozialarbeit. Seine Aktivitäten erstrecken sich nicht nur auf „Demeu“ selbst, er besuchte weitere Sozialeinrichtungen in Astana und Kasachstan.
Es sei nicht ganz einfach, die Sprach- und Mentalitätsgrenzen zu überwinden, und es brauche Zeit, eine fruchtbare Basis zu erarbeiten, die allen Beteiligten gerecht wird, so Barnes-Ceeney. Die Arbeit als VSO-Freiwilliger bedeutet ein Teilen nicht nur professioneller Erfahrung, sondern auch Lebenserfahrung. Soziale Arbeit steht in Kasachstan noch am Anfang. Barnes-Ceeney hat viele Ideen. Es geht ihm vor allem darum, Berührungsängste der Sozialarbeiter in Astana mit sozial ausgegrenzten Gruppen wie Alkoholikern, Drogenabhängigen und Obdachlosen zu überwinden.
Barnes-Ceeney möchte zum Beispiel einen Treffpunkt für Obdachlose initiieren, mit Hilfe dessen sie mobilisiert werden, ihr Leben besser zu organisieren. Ein weiteres Projekt ist ein Treffpunkt für Drogenabhängige auf der Grundlage des harm reduction Ansatzes mit einem Billardtisch, Beratungsmöglichkeiten, Unterstützung durch Sozialarbeiter und mit Unterweisungen in sicheren Injektionstechniken. Denn: „Wenn jemand nicht mit Drogen aufhören will, hat er in Kasachstan überhaupt keine Angebote.“ Barnes-Ceeney betont, dass ein „Sag nein“-Ansatz Untersuchungen zufolge wenig wirksam sei. Es sei vielmehr der gefahrenreduzierende Ansatz, mit seinem Abwägen von Vorteilen und Nachteilen und mit Gesprächen mit den Betroffenen, der erfolgreich sei. Der harte und schnelle Entzug in einer gefängnisähnlichen Umgebung wie im Republikanischen Zentrum Pawlodar überzeuge nicht. Obwohl keine offiziellen Zahlen existierten, sei davon auszugehen, dass die meisten User wieder rückfällig würden, resümiert Barnes-Ceeney.
Ein weiterer hot spot in Barnes-Ceeneys Arbeit ist die Situation in der Betreuung behinderter Waisenkinder. Auch mit Asthma oder Epilepsie leben Waisenkinder in geschlossenen Einrichtungen. Aufgrund einer Behinderung werden die Kinder als nicht ausbildungsfähig abgestempelt. Das Fehlen geeigneter Physiotherapie für hospitalisierte Kinder führt zur Muskelrückbildung und fesselt sie ein Leben lang an das Bett. Hier sei ein elementares Grundrecht des Kindes, sitzen zu dürfen und nicht liegen zu müssen. Die hohe Zahl der Kinder mit Behinderung in geschlossenen Einrichtungen gehört zu den schwierigen Erbschaften aus der Zeit der Sowjetunion. In Kasachstan ist diese Zahl mit 77.000 betroffenen Kindern besonders hoch.
Kaffeepause im Seminarraum im Keller von „Demeu“. Die Seminarteilnehmerinnen aus Semey und Uralsk sind begeistert. Sie wollen Neues lernen, wollen erfolgreich arbeiten. Die Stimmung ist gelöst und produktiv. Es bleibt zu hoffen, dass die staatliche Seite die Unterstützung für diese Arbeit nicht nur aufrechterhält, sondern noch verstärkt. Dazu muss ebenfalls eine Erhöhung der Einkommen für im sozialen Bereich Tätige gehören.