Ira Peter gehört zur „mitgebrachten“ Generation von Aussiedlern und Spätaussiedlern. Seit vielen Jahren setzt sie sich aktiv für ein realistisches Bild von den Russlanddeutschen in der Mehrheitsgesellschaft ein. Passend dazu erscheint in wenigen Tagen ihr erstes Buch „Deutsch genug?“, in welchem sie mit Vorurteilen aufräumt und gleichzeitig ihre eigenen Erfahrungen teilt.

Liebe Ira, warum ausgerechnet ein Buch?

Der Impuls kam tatsächlich über eine Literaturagentur in Berlin, die über meine Artikel für ZEIT online auf mich aufmerksam geworden war. Ich hätte mich das selbst nie getraut, um ehrlich zu sein. Vor allem, weil ich dachte, das würde sowieso niemanden interessieren.

Deshalb hatte mich die große Resonanz bei den Verlagen dann richtig umgehauen. Es gibt zwar mittlerweile einige Romane, die die russlanddeutsche Kultur und Geschichte vermitteln. Aber ein Sachbuch, das wie meins alles Wichtige faktenbasiert, aber auch gleichzeitig auf eine persönliche Art und Weise vermittelt, existierte bisher nicht.

Nach wie vor wissen viele Menschen in Deutschland nicht, wer wir sind, und ich glaube, so ein Buch ist einfach sehr praktisch, um bestimmte Themen nachschlagen zu können.

Welche Zielgruppe möchtest du mit deinem Buch ansprechen?

Ich habe tatsächlich zwei Zielgruppen im Kopf. Zum einen ist es mir wichtig, dass die breite Gesellschaft in Deutschland, die vielleicht auch gar keinen Bezug zur russlanddeutschen Geschichte und Kultur hat, erfährt, wer diese Menschen sind. Wir sind die größte Einwanderungsgruppe in Deutschland, und ich finde, es ist höchste Zeit, dass Deutschland mal weiß, was das eigentlich für Leute sind.

Auf der anderen Seite ist es mir extrem wichtig, dass auch Russlanddeutsche dieses Buch lesen, weil ich weiß, dass viele Russlanddeutsche ihre eigene Familiengeschichte sehr wenig kennen. Wenn dir jemand sagt, du bist Putin-Versteher oder AfD-Wähler oder sogar, dass du nicht rechtmäßig in Deutschland bist, kannst du kaum Gegenargumente liefern, wenn du nicht aktuelle Studien zu dieser Frage und deine eigene Geschichte, die Geschichte der Russlanddeutschen kennst. Ich liefere in meinem Buch Hintergrundwissen und Argumente und kleide sie in meine persönliche Geschichte sowie / geschilderte Erfahrungen anderer Russlanddeutscher.

Ich glaube, es ist wichtig zu wissen, wer man selbst ist und woher man kommt, um sich besser verorten zu können und selbstbewusst seinen Platz in dieser Gesellschaft einzunehmen.

Wie ging’s dir denn während dem Schreibprozess? Gab es Momente, die für dich neu waren oder dich überrascht haben?

Ich hatte ganz oft Momente bei meiner Recherche, wo ich sehr berührt war, manchmal überrascht und oft auch wütend. Gerade bei Themen wie beispielsweise den nicht anerkannten Berufsabschlüssen unserer Eltern oder dem Thema Gewalt und Drogenkonsum in den Neunzigern bei Russlanddeutschen. Als ich anfing, Studien darüber zu lesen, ist mir klar geworden, dass ich ein Bild abgespeichert hatte, dass nicht der Realität entsprach: Statistisch gesehen waren russlanddeutsche Jugendliche gar nicht gewaltbereiter als ihre deutschen Altersgefährten. Aber durch das medial vermittelte Bild von dieser Gruppe, die in den Neunzigern als „Problemgruppe“ galt, ist das auch bei mir – und bestimmt bei vielen anderen auch – so hängen geblieben. In der Summe habe ich bei meiner Recherche gemerkt, dass medial und in der Öffentlichkeit ein ganz anderes Bild von den Russlanddeutschen vermittelt worden ist, als es die Wissenschaft und Realität hergibt.

Ansonsten ist so ein Schreibprozess eine wirklich sehr einsame Arbeit. Ich habe sechs Monate nur recherchiert und geschrieben, das war schon anstrengend. Ich bin froh, dass mich viele Menschen begleitet und mich mit ihrem Wissen, aber auch einfach nur lieben Worten unterstützt haben.

Du hast an einer Stelle geschrieben, dass dir deine Herkunft „mit der Zeit immer wichtiger und auch unwichtiger zugleich wurde“. Warum war das so und wie stehst du jetzt dazu?

Am Anfang war es mir wichtig, so deutsch wie möglich zu sein und nicht aufzufallen. In meiner Jugend habe ich meine Herkunft als Ballast empfunden, weil ich mich für meine Herkunft geschämt hatte. Russlanddeutsche wurden ja pauschal als Russen und Russinnen wahrgenommen, die in Deutschland auch lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs kein gutes Image hatten. Je mehr ich als Erwachsene über meine Herkunft erfahren habe, desto mehr habe ich darin aber eine Bereicherung gesehen. Ich bin dankbar von so starken Menschen wie meinen Großeltern abzustammen, die den stalinistischen Terror überlebt haben. Und ich bin meinen Eltern dankbar, die in der Mitte ihres Lebens ein zweites Leben aufgebaut haben, wodurch sie für uns Kinder auf so vieles verzichtet haben: auf Schlaf, Gesundheit, Urlaubsreisen. Da kann ich mich nicht mehr für meine Herkunft schämen, ganz im Gegenteil. Meine Herkunft ist heute für mich etwas, aus der ich ganz viel Kraft schöpfe.

Mittlerweile ist mir meine deutsche Herkunft also auch egal, weil es mir grundsätzlich egal ist, woher jemand kommt. Für mich bedeutet „deutsch sein“ heute, Teil dieses Landes zu sein – mit den gleichen Rechten, Pflichten und Chancen für alle. Es bedeutet für mich, sich für einen Rechtsstaat einzusetzen, der Asylrecht gewährt und Minderheiten schützt. Außerdem heißt es, in einem Land zu leben, in dem Herkunft, Name oder Religion keine Barrieren sein dürfen – und aktiv daran mitzuwirken, dass es so bleibt.

Man sollte als eingewanderter Mensch die Werte und Gesetze des Landes respektieren, ohne die eigene Herkunft verleugnen zu müssen. Aber das ist, was die allermeisten Russlanddeutschen in den Neunzigern gemacht haben. Sie haben sich assimiliert aufgrund des öffentlichen Drucks. Die russlanddeutsche Identität und vor allem die mitgebrachten, wertvollen Sprachkenntnisse wurden aufgegeben. Heute finde ich das sehr schade. Russisch ist für mich einfach die Sprache meiner Kindheit und die gehört zu meiner
russlanddeutschen Identität dazu. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, wo die Herkunft einfach keine Rolle spielt, sondern wo es darum geht, dass man Mensch genug ist und nicht deutsch genug.

Ich bin beim Lesen auch an der Stelle hängen geblieben, an der du geschrieben hast, dass deine Eltern eher weniger offen über die Vergangenheit sprechen oder gesprochen haben. Das ist etwas, was unter Russlanddeutschen sehr verbreitet ist. Warum denkst du ist das so?

Postsowjetische Menschen sind generell relativ verschlossen. Und bei Russlanddeutschen ist dies noch stärker. Im Buch bezeichne ich das als „postsowjetische Belastungsstörung“ und damit meine ich, dass die Deutschen enteignet und deportiert worden sind. Viele sind in Arbeitslagern gestorben und zehntausende wurden ohne Gerichtsverfahren erschossen. Bis in die 1980er Jahre blieben Deutsche in der Sowjetunion Menschen zweiter Klasse, die systematisch diskriminiert worden sind.

Solche Erfahrungen prägen russlanddeutsche Familien: Bis heute ist diese Angst, sich zu öffnen, immer noch präsent. Wenn du die ganze Zeit bedroht bist, ziehst du dich zurück und traust auch deinen Nachbarn nicht mehr. Ich kann Russlanddeutsche meist an ihrem wachsamen, ängstlichen Blick auf der Straße sofort identifizieren.

Wenn dann die nächste Generation kommt und viele Fragen stellt und die Eltern plötzlich zwingt, sich mit einem Schmerz auseinanderzusetzen, den sie ihr ganzes Leben lang totgeschwiegen haben, dann kann das innerhalb der Familien zu Konflikten führen. Aber ich glaube, es ist ganz wertvoll, diese verschlossenen Bücher vorsichtig zu öffnen und da wirklich Kapitel für Kapitel den Schmerz aufzuarbeiten. Ich glaube, dass so ein Dialog und dieses doch Zurückgucken ganz viel Positives für alle Generationen mitbringen kann.

Ich rechne es meiner Familie hoch an, dass sie so viel aus ihrer Erfahrung geteilt hat für dieses Buch. Ohne sie könnte dieses Buch gar nicht existieren.

Du betreibst ja schon seit 2017 aktiv diese Aufklärungsarbeit über russlanddeutsche Themen. Was hat sich deiner Meinung nach seither bereits in Deutschland getan?

Leider passiert es immer noch, dass wir von manchen Medien sehr tendenziös dargestellt werden. Bestes Beispiel ist die vergangene Bundestagswahl. Es gab wieder sehr viel Berichterstattung, in welcher sogenannte „Brennpunktviertel“ herausgegriffen werden mit hoher postsowjetischer Bevölkerungsdichte, in denen die AfD gut abgeschnitten hat. Diese „Brennpunktviertel“ spiegeln aber nicht den Durchschnitt der Russlanddeutschen wider, ebenso wenig wie Thüringen für die gesamte Bundesrepublik steht.

Nach wie vor gibt es in den Medien auch das Problem, dass einfach Begriffe durcheinandergeworfen werden: Man spricht von Russlanddeutschen, weiter im Text heißt es dann aber Usbeken, Tadschiken und dann wieder Spätaussiedler. Da wird alles wild durcheinandergeworfen und manche Menschen verletzt das.

Wenn ich auf die letzten, jetzt fast acht Jahre zurückblicke, in denen ich mich öffentlich mit dem Thema auseinandersetze, so hat sich trotzdem vieles positiv gewandelt. Ich sehe, dass wir als Gruppe viel präsenter sind, wir haben eine eigene Stimme entwickelt. Es gibt Initiativen wie OstKlick und das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte. Es gibt Edwin Warkentin, der seit 2017 Kulturreferent für Russlanddeutsche ist. Es gibt Journalistinnen und Autoren wie Eleonore Birkenstock oder Viktor Funk und mich, die selbst über diese Themen berichten und dieses Feld nicht mehr nur den anderen überlassen.

Dadurch, dass wir sichtbarer geworden sind, kommen auch Journalisten und Journalistinnen öfter auf uns zu. Sie fragen uns und lassen uns zu Wort kommen, anstatt wie früher nur über uns zu sprechen. Es ist viel passiert und vor allem habe ich das Gefühl, dass wir als neue Generation die Kraft haben, uns zu wehren, wenn wir in ein falsches Licht gerückt werden.

Wir haben das Selbstbewusstsein, wir haben die Bildung, wir verstehen, wie dieses Land funktioniert, und wir lassen uns nicht mehr alles gefallen. Das ist eine tolle Entwicklung für eine starke Zivilgesellschaft und eine Chance, um ein Wir-Gefühl in diesem Land zu schaffen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Annabel Rosin.

Das Buch „Deutsch Genug? Warum wir endlich über Russlanddeutsche reden müssen“ (ISBN 978-3-442-31777-6) ist ab 19. März 2025 erhältlich.

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