Wie die Sowjetdeutschen am Ende der Perestroika die „Wiedergeburt“ schufen.

Es sind die späten 1980er Jahre: ein großes Land am Scheideweg. Gorbatschows Perestroika, die der Auslöser für heftigste widersprüchliche Umwälzungen war, war letztlich der letzte, endgültige Akkord der UdSSR. Die Bevölkerung verlangte mit überwältigender Mehrheit nach Veränderung, und die Veränderung kam in Form von politischen, sozioökonomischen und kulturellen Krisen. Vor dem Hintergrund dieser Schocktherapie und der Freisetzung der stärksten menschlichen Energie schufen die Sowjetdeutschen die Allunionsgesellschaft „Wiedergeburt“.

Wir sprachen mit Jakob Fischer, einem der Gründer der „Wiedergeburt“, ehemaliger stellvertretender Direktor des Deutschen Bühnentheaters in Temirtau und Alma-Ata (von 1982 bis 1991) und Kulturmanager für in Deutschland lebende Russlanddeutsche, darüber, wie es zu der Gründung kam und mit welchen Schwierigkeiten die Deutschen zu kämpfen hatten.

Herr Fischer, glauben Sie, dass die Situation unumkehrbar war? Ich spreche vom Zusammenbruch der Sowjetunion.

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass das Ende der UdSSR in der Tat unausweichlich war. Alles bewegte sich darauf zu: die seit langem bestehende Verstrickung ungelöster Widersprüche, die bis in die Zeit der Stalinschen Repressionen zurückreichen, die Deportationen nationaler Minderheiten…. Die unkorrekte sowjetische Politik, die zuweilen äußerst zweifelhaft und heuchlerisch wirkte, die wirtschaftliche Stagnation, die Warenknappheit… Ich könnte noch viel mehr aufzählen. Der Kessel, in dem es seit langem brodelte, ist schließlich geplatzt: Die 1980er Jahre stürzten die Gesellschaft in einen Abgrund von schmerzhaften Veränderungen. Ich nehme an, dass es gar nicht anders sein konnte.

Ende März 2024 werden es 35 Jahre seit der Gründung der „Wiedergeburt“ sein. Es war 1989, ein schwieriges Jahr: Glasnost, Marktwirtschaft, soziale Unruhen, der Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer… Und eine plötzliche Initiative zur Gründung der Allunionsgesellschaft der Sowjetdeutschen. Wie hat Moskau damals reagiert?

Die „Wiedergeburt“ der Sowjetdeutschen entstand, man könnte sagen, in einem einzigen Impuls. Die Idee wurde lange gehegt und gepflegt. Es wurde viel gesagt, aber es gelang, die Kräfte zu sammeln und die Idee zu verwirklichen. Zu dieser Zeit arbeitete ich im Deutschen Theater, ich war auf Tournee im Gebiet Kokschetau, und für den 31. März war das zentrale Treffen der Sowjetdeutschen in Moskau angesetzt. Delegationen aus allen Republiken der UdSSR kamen in die Hauptstadt – über 150 Personen waren anwesend – und legten den Grundstein für eine neue Gesellschaft. Die Aufregung war groß! Es war fast eine paradoxe Situation: Nach zahlreichen Enttäuschungen und Ablehnungen durften wir, die Sowjetdeutschen, uns in Moskau versammeln. Es war also nicht mehr verboten! Wir haben uns natürlich gefreut.

Was erwarteten die Menschen von den Veränderungen, die damals mit Nachdruck an ihre Türen klopften?

Frische Luft. Alle hofften und glaubten, dass sich endlich etwas ändern würde. Die Erwartungen an Michail Gorbatschow waren sehr hoch. Die Politik der Glasnost, die er im Februar 1986 verkündete, war beflügelnd: Verbotene Literatur wurde aus den Sonderdepots in die offenen Sammlungen zurückgegeben, Dokumente aus den Staatsarchiven wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, Fernsehen und Zeitungen sprachen über das, was viele Jahre lang geschwiegen worden war. Für uns Volksdeutsche war die vielleicht wichtigste Errungenschaft die Arbeit der Kommission des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU zur Rehabilitierung der während der stalinistischen Repressionen unrechtmäßig verurteilten Sowjetbürger.

Hunderttausende von Deutschen wurden freigesprochen, wenn auch posthum… Man glaubte aufrichtig, dass es bald möglich sein würde, Gesellschaften der Sowjetdeutschen, Zentren für das Studium der deutschen Sprache und der deutschen Kultur vor Ort zu organisieren: in den Republiken und ihren Regionen. Damals, im März 1989 in Moskau, kamen Teilnehmer von Delegationen auf mich zu und fragten, wann unser Theater auf Tournee in diese oder jene Sowjetrepublik kommen könne. Es gab nur ein einziges deutsches Theater für die ganze Union.

Wie lebte das Theater und welche Art von Aufführungen verlangte das Publikum in der Perestroika-Zeit?

Die Zeiten waren unruhig und schwierig. Außerdem fehlte es an Fachleuten. Wir hatten nur Schauspieler, und die Tätigkeit des Theaters beruht ja auf zahlreichen Mitarbeitern. Es fehlte uns an professionellem Personal. Außerdem bestanden die sowjetischen Parteiorgane darauf, dass wir als ein Theater gelten sollten, in dem die Stücke in deutscher Sprache aufgeführt wurden – als ob wir nichts mit den Sowjetdeutschen zu tun hätten. Unsere Schauspieler wurden an der Schtschepkin-Theaterschule in Moskau in der deutschen Abteilung ausgebildet. Die Stücke, die im Deutschen Theater aufgeführt wurden, waren russische Klassiker: Gogol, Ostrowskij usw., aber auch moderne Stücke: Arbusow, Wampilow usw. Kurzum, es gab nichts, worauf sich die Sowjetdeutschen gefreut hätten.

Und so gab es ab 1984, als es dem Theater gelang, Exkursionen in die ehemaligen Gulag-Lager zu unternehmen, sozusagen ein Erwachen: Die Schauspieler begannen zu verstehen und waren sich einig, dass es notwendig war, Inszenierungen darzubieten, die die ganze Wahrheit enthielten. Ende der 1980er Jahre gelang es uns dank des Schriftstellers Viktor Hainz – er schrieb die Drehbücher –, drei Produktionen über die Geschichte der Sowjetdeutschen, der Arbeitsarmee und der Lager des Innenministerium-Systems auf die Bühne zu bringen.

Wir erzählten dem Publikum von der Bühne aus von der deutschen Wolgarepublik. Bis 1990 unterstellten uns die offiziellen Stellen, dass es eine solche Republik gar nicht gab: Jemand habe sie erfunden. Aber das war natürlich nicht so: Unsere Eltern lebten noch und erinnerten sich sehr gut daran, wie es wirklich war. Übrigens waren diese Aufführungen ein großer Erfolg. Durch die Bemühungen unserer Theaterleute entstanden in den Regionen deutsche Folklore-, Tanz- und Gesangsgruppen.

Heute macht das Republikanische Akademische Deutsche Schauspielhaus schlechte Zeiten durch…

Ja, aber trotz aller Schwierigkeiten arbeitet das Theater weiter – das kann nur erfreulich sein, denn unsere tapfere Sache lebt weiter.

Drei Jahre vor dem Zusammenbruch der UdSSR fand das erste Festival der deutschen Kultur in Kasachstan statt – ein für die damalige Zeit buchstäblich beispielloses Ereignis. Sie waren der Initiator und Organisator eines solchen Großprojekts. Erzählen Sie uns, wie die Geschichte des Festivals begann?

Mit den Auftritten unseres Theaters. Überall dort, wo sie stattfanden – also an den Orten, an denen exilierte und deportierte Deutsche lebten –, gelang es mir, mit lokalen Musikern und Künstlern, mit aktiven und kreativen Menschen Bekanntschaft zu machen. Daraus entstand die Idee, sie alle zusammenzubringen und Erfahrungen auszutauschen. Ich schrieb einen Brief an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Kasachstans und bat um die Erlaubnis zur Durchführung des Festivals.

Es sei darauf hingewiesen, dass sich die sowjetischen Parteiorgane lange Zeit gegen solche Veranstaltungen wehrten, doch wir hatten Erfolg: Im Januar 1988 fanden in der Stadt Temirtau und im Oktober 1990 in der Stadt Almaty Festivals der deutschen Kultur statt. Das zweite Festival erwies sich als sehr groß angelegt. Es wurde von fast zweitausend Menschen besucht, die sogar von außerhalb der Kasachischen SSR kamen. Es war das größte Kulturereignis in der Geschichte der sowjetischen Deutschen… Alle waren begeistert.

Natürlich gab es auch traurige Momente: So durften zum Beispiel fünf deutsche Folkloregruppen aus dem Gebiet Aqmola nicht zum Festival in Temirtau anreisen. Die Teilnehmer, die zur Veranstaltung anreisten, wurden im Hotel gründlich durchsucht… Es ist wunderbar, dass die aktuellen Festivals der deutschen Kultur „Wir sind zusammen!“ sowohl von der Regierung Kasachstans als auch von der deutschen Regierung unterstützt werden. Das ist zweifellos ein großes Plus.

Was sind Ihre Wünsche für die Deutschen in Kasachstan?

Ich wünsche Kasachstan alles Gute, nationale Solidarität und Wohlstand! Ich hoffe, dass die in Kasachstan ansässigen deutschen Gesellschaften und Zentren ihre Arbeit noch lange fortsetzen werden. Ihre Tätigkeit ist äußerst wichtig und notwendig für die Vertreter der deutschen Volksgruppe vor Ort.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Marina Angaldt. Übersetzung: Annabel Rosin.

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