Der Randbezirk Karasu im Norden Almatys ist verschlafen. Ein zentraler Ort des Viertels ist der kleine Karasu-See. Was früher ein beschauliches Plätzchen war, mutierte in den letzten Jahren zu einem vergessenen Tümpel. Bis Sergej Wassiljew mit einer Vision kam – den See als sozialen Treffpunkt wiederzubeleben.

Am Ufer des Karasu-Sees herrscht Trubel an diesem Samstagvormittag im Juni. Unzählige Kinder und Familien feiern die Eröffnung eines Amphitheaters. Die Freiluftbühne ist Teil des Karasu-Projektes, welches das Ziel hat, das Almatyner Viertel Karasu lebenswerter zu gestalten. Ins Leben gerufen wurde es von Sergej Wassiljew Anfang 2017. Der 34-jährige Investmentmanager ist selbst in Karasu aufgewachsen. In seiner Kindheit war Karasu noch ein Dorf, bis es 1991 an Almaty angegliedert und zum Mikrobezirk wurde. Der See befindet sich im Zentrum des Viertels. Auf der gegenüberliegenden Seite des Amphitheaters liegt die orthodoxe Kreuzerhöhungskirche am Ufer des Sees. Mit den Jahren nach der Angliederung wurde der See zunehmend als Müllhalde zweckentfremdet.

„Als ich selbst Kind war, waren der See und die Umgebung viel schöner. Überall war Park“, erzählt Wassiljew. Statt eines Parks säumen nun Häuser die Ufer des Sees. Bevor Wassiljew, der Ökonomie an der Al-Farabi-Universität studierte, sich sozial in seinem Almatyner Viertel engagierte, war er lange Zeit nicht in seiner Heimat. Nach seinem Abschluss ging er mit einem Stipendium nach Großbritannien, um an der Universität Birmingham seinen Master in Ökonomie zu absolvieren. Auf seine Zeit in Großbritannien folgten zwei Jahre in Astana, wo er als Anlagenanalyst arbeitete. 2015 kehrte er nach Karasu zurück.

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Inspiration durch britische Sozialprojekte

Seine Erfahrungen in England prägten ihn nachhaltig: „Während meiner Zeit in Großbritannien sah ich so viele Beispiele, wo sich Anwohner für nahgelegene Orte in der Natur, wie Seen oder Wasserreservoirs, einsetzten. Als ich dann zurückkam und den Karasu-See sah, war außer der schönen Kirche nichts schön. Der See war dreckig und runtergekommen. Überall war Müll. Ich fragte mich also, warum können wir es nicht auch wie die Leute in England machen.“

Im Alleingang begann Wassiljew, Informationen über den See zu sammeln und überlegte, wie er die Situation verbessern könnte. Vieles hängt aber von der Finanzierung ab, um überhaupt zu starten, stellt Wassiljew rückblickend fest. Im Frühjahr 2017 bewarb er sich dann bei der Soros-Stiftung, die einen Wettbewerb für nicht im Stadtzentrum Almatys befindliche soziale Projekte ausgeschrieben hatte. Mit Erfolg. Das Förderungsgeld der Stiftung floss in zweierlei Ansätze.

Einerseits organisierte Wassiljew Veranstaltungen in seinem Viertel, um interessierte Leute zu finden, die sich engagieren würden. So fanden sich zwölf Leute zusammen, die bis heute das Projekt stützen. Wer Wassiljews Projekt unterstützt, ist auch für ihn interessant: „Generell kann ich sagen, dass die Projektunterstützer der Mittelklasse angehören. Sie haben ihre Grundbedürfnisse gesichert und überlegen jetzt, wie sie die Dinge um sich herum verbessern können.“ Dabei seien die meisten von ihnen Frauen, diese würden sich oft mehr engagieren.

Der zweite Ansatz war eine Analyse zur Dokumentation des Zustands des Sees. „Wir wussten erst nicht, wo das Wasser des Sees herkommt oder wie es um die Qualität des Wassers steht. Mit dieser Analyse konnten wir schauen, wie wir den Zustand des Sees verbessern können“, berichtet Wassiljew. Gleichzeitig arbeitete das Projekt zu diesem Zeitpunkt eng mit den Medien zusammen. Die Bekanntheit des Projekts erleichterte auch den Zugang, mit der Stadtverwaltung zusammenzuarbeiten.

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Vom Tümpel zum Erholungsort

Karasu
Pulsierende Performance: Die Bretter des neuen Amphitheaters werden gebührend eingeweiht. | Foto: Mayely Müller

Durch die Kooperation mit der Stadtverwaltung lag es an den Engagierten des Karasu-Projekts, ihre Pläne zu konkretisieren. Ein Ziel wurde die Errichtung eines Parks um den See, um so einen sozialen Treffpunkt aus ihm zu machen. Eine Herausforderung war die Tatsache, dass viele Anwohner im See unterschiedliche Zwecke sehen. Beispielsweise gibt es viele Angler, die weniger an einem Amphitheater interessiert seien. Für diese organisierte das Projekt einen Fischerwettbewerb. Für Familien mit Kindern, die den See als Erholungsort nutzen, wurde bereits ein Spielplatz gebaut.

Außerdem säuberten die im Projekt Engagierten im letzten Jahr die Ufer des Sees. Dadurch, dass sich nicht genug Helfer zur Säuberung für dieses Jahr gefunden haben, konnte diese Maßnahme noch nicht umgesetzt werden. Durch die Eröffnung des Amphitheaters entwickelt sich laut Wassiljew allerdings ein besonderer Effekt: „Das Amphitheater wird, denke ich, mehr Leute zusammenbringen, die uns dann wiederum bei der Säuberung des Sees helfen werden.“

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Das Wasser des Sees: schwarz oder gottgegeben?

Die Bedeutung des Karasu-Sees sei besonders aufschlussreich, erklärt Wassiljew. In der direkten Übersetzung aus dem Kasachischen heißt Karasu „Schwarzes Wasser“. „Kara“ bedeutet allerdings nicht nur schwarz, sondern auch gottgegeben. „Su“ heißt übersetzt Wasser. Die korrekte Übersetzung des Ses ist somit „Wasser, das von Gott gegeben ist“. Wenn man vom Amphitheater über den See schaut und die goldenen Kuppeln der orthodoxen Kirche erblickt, erscheint der Name einleuchtend.

Nicht nur Russen oder Kasachen wohnen in dem Viertel mit rund 15.000 Einwohnern, sondern auch Uiguren, Koreaner oder Türken. „Sie alle leben friedlich zusammen, und in den vergangenen Jahren wurde der See mit der orthodoxen Kirche assoziiert. Mit dem Amphitheater schaffen wir jedoch einen Ort, der für jede ethnische oder religiöse Gruppe zugänglich sein soll. Hier kann sich jeder beteiligen und miteinander in Kontakt kommen“, stellt Wassiljew fest.

Das Amphitheater, das durch das British Council, das Akimat Almaty, das Entwicklungszentrum Almaty und die Kasachisch-Britische Technische Universität finanziell gefördert wurde, sieht somit nicht nur als hübsch aus, sondern insbesondere als öffentlicher Raum. Durch die hölzerne Bühne besteht nicht nur die Möglichkeit, Theaterstücke aufzuführen, sondern auch andere Veranstaltungen zu verwirklichen, wie beispielsweise ein Open-Air-Kino aufzubauen.

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Durch Zivilengagement Lebensqualität schaffen

Einen essentiellen Aspekt sieht Wassiljew in der Zusammenarbeit mit der Jugend Karasus. Ein Ziel, die Bildung einer lokalen Gemeinschaft, wird dadurch besonders verfolgt. In diesem Sommer sollen Treffen für Kinder und Jugendliche realisiert werden, die sich nachhaltig mit Müll auseinandersetzen sollen. Den Kindern solle gezeigt werden, wie man kreativ Müll recyceln kann. Müll soll demnach nicht einfach als solcher betrachtet werden, vielmehr sollen die verschiedenen Materialen als solche wahrgenommen werden. „Eine Sache ist, dass Menschen immer wegziehen und neue Leute kommen können. Wenn man aber speziell etwas für Kinder organisiert, kommen vielleicht 50 Kinder. Sagen wir nach etwa zehn Jahren haben zwei Leute aus dieser ehemaligen Kindergruppe die gleichen Visionen, die ich für den See habe, und möchten ähnliche Ziele durchsetzen, um etwas zu verbessern. Diese Kinder können Ähnliches erreichen oder solche Projekte durch ihre Erfahrungen vielleicht sogar noch besser umsetzen.“

„Soziale Projekte sind deutlich unterschiedlich zu Investitionsprojekten in der freien Wirtschaft. Mit einem sozialen Projekt ist man eine Schnittstelle zwischen der Öffentlichkeit, der Politik und anderen Einflüssen“, konstatiert der Investmentmanager. Gerade der Spagat zwischen Beruf und einem Sozialprojekt sei schwierig, da sich durch die begrenzte Zeit die Entwicklung des Projekts verzögere. Feierabende, Wochenenden und Ferien werden demnach für die Umsetzung der gesteckten Ziele genutzt.

Einen Ort lebenswert machen – um eine Familie zu gründen, zu arbeiten oder um Gemeinschaft zu erleben: Das Karasu-Projekt zeigt neue Aspekte der Stadtentwicklung in Kasachstan auf, befeuert durch ziviles Engagement. Das Modell des Projekts ist dabei übertragbar auf andere Stadtteile. Dort, wo sich Menschen zusammenfinden und gemeinsam Ziele verfolgen, können soziale Treffpunkte geschaffen werden. Unter diesem Gesichtspunkt können zudem Aspekte der Nachhaltigkeit, die ihre Umwelt positiv beeinflussen, entstehen. Aus einem unansehnlichen Tümpel wird so ein Ort des Austauschs, der Erholung oder des Zusammenkommens.

Mayely Müller

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