Die schrecklichen Ereignisse vergangener Zeiten bewegen die Seelen und Herzen der Menschen bis zum heutigen Tag. Die Vergangenheit ist lebendig, egal wie tief man sie zu begraben versucht – eine paradoxe Tatsache für moderne, meist feige Zeiten. Manchen aktuellen Einschätzungen, wonach zu Stalins Zeiten nicht alles so schrecklich war – und wenn doch, dann sei es gerechtfertigt gewesen –, steht eine andere, unverzerrte Sichtweise gegenüber.

Fünf Kilometer vom Museum zur Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen des Karlag entfernt, in der Siedlung Dolinka, befindet sich ein Friedhof für Kinder und Frauen, die inhaftiert waren. Es ist bestimmt nicht notwendig zu erklären, was das Karlag in den 1930er bis 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts war. Es war eines der größten sowjetischen Strafarbeitslager des NKWD-Systems, über dessen Förderband Hunderttausende von Menschen liefen.

In der feuchten Erde des „Mamotschkino-Friedhofs“ liegen die Opfer des Karlag – Frauen und Kinder. Viele von ihnen waren zum Zeitpunkt ihres Todes noch nicht einmal ein Jahr alt. Sie starben an Hunger, Krankheiten und den schlechten Haftbedingungen. Die genaue Zahl der dort Begrabenen ist unbekannt.

Doch können gleichgültige Statistiken das menschliche Leid in vollem Umfang erfassen? Wohl kaum. Und wie lässt sich der Tod von Tausenden von Kindern rechtfertigen? Durch Arbeitsleistungen oder die Erschließung des Neulandes durch die gesamte Union?

Gerüchte von Kellergeschossen mit Folterräumen

Das Museum wurde 2001 gegründet, um die Denkmäler der Geschichte von Karlag zu erforschen und zu bewahren sowie das Andenken an die Opfer in Kasachstan zu verewigen. Im Jahr 2006 nahm die Ausstellung ihre Arbeit in der ehemaligen Poliklinik von Karlag auf. 2011 zog das Museum in die Räumlichkeiten um, in denen sich einst die Abteilung für Lager von Karaganda befand.

Ursprünglich war Dolinka, das etwa vierzig Kilometer von Karaganda entfernt liegt, ein sogenanntes „deutsches Dorf“. Es wurde 1909 von Einwanderern aus der Wolgaregion gegründet und hieß „Gnadenfeld“.

In den 1930er Jahren begann man, Häftlinge in die Siedlung zu bringen, und zwischen 1933 und 1935 errichtete man das Gebäude der Lagerverwaltung von Karlag. Es gibt Gerüchte, dass es dort mehrere Kellergeschosse gibt – im untersten könnten sich die „Folterräume“ befinden. Dafür gibt es jedoch keine direkten Beweise.

In den 1960er Jahren und später beherbergte das Gebäude eine technische Schule, dann ein Kinder-Tuberkulose-Sanatorium. Am Ende der Perestroika-Jahre sollte in diesen Räumlichkeiten ein Sanatorium für Bergleute untergebracht werden, aber aufgrund des Zusammenbruchs der Sowjetunion ließ sich diese Idee nicht verwirklichen. Lange Zeit verfiel das Gebäude der ehemaligen Direktion und wurde zerstört, bis es 2009 ein neues Leben begann. Diesmal mit einer noblen Mission.

Gedenkkultur in Deutschland und Kasachstan

Laut Swetlana Bajnowa, der Leiterin des Karlag-Museums, ist die schreckliche Geografie der stalinistischen Repressionen in Kasachstan bisher noch nicht vollständig erforscht worden. Nehmen wir zum Beispiel den „Mamotschkino-Friedhof“ – es gibt keinen dokumentarischen Nachweis darüber, wer genau dort begraben ist. Und es gibt viele ähnliche Beispiele: Oft gibt es keine offiziellen Daten oder Karten von Gräbern. Und das, obwohl es 16 Gulag-Lager auf dem Gebiet der Kasachischen SSR gab.

„Seit 2020 arbeitet die Staatliche Kommission für die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen. Unsere Inspektion für den Denkmalschutz wurde beauftragt, eine Karte der Gräber zu erstellen. Das scheint geschehen zu sein. Die Karte wurde erstellt, allerdings auf der Grundlage der Aussagen von Menschen – alten Bewohnern bestimmter Siedlungen. Ich persönlich habe die Karte jedoch nicht gesehen“, sagt Swetlana Bajnowa.

Sie fügt hinzu: „Ende September 2023 waren meine Kollegen und ich auf einer Geschäftsreise in Deutschland, die von der Regierung dieses Landes organisiert wurde. Wir besuchten Gedenkstätten und nahmen an einem Runden Tisch teil. Die Wissenschafts- und Bildungsreise beeindruckte mich mit der Tatsache, dass in Deutschland viel Zeit und Geld in die Erhaltung von Gedenkstätten und Denkmälern gesteckt wird. Leider ist die Situation in unserem Land nicht die gleiche. Viele Grabstätten sind für immer verloren gegangen.“

Weitere Fragen hat Swetlana Bainowa in unserem Interview beantwortet.

Wer waren die Opfer von Karlag und welcher Art von Folter waren sie ausgesetzt?

Es waren Menschen buchstäblich aller Nationalitäten, die aus fast allen Teilen der Sowjetunion unterdrückt wurden: Kulaken, politische Gefangene, Exilanten. Unter ihnen befanden sich viele Intellektuelle, Geistliche und Wissenschaftler. Eine einzige Denunziation genügte, um eine Person zu bestrafen und ihres Lebens zu berauben.

Im Jahr 1937, während des „Großen Terrors“, war Folter erlaubt und wurde sogar „in den Fluss“ gebracht. Dabei waren die Arten ihrer Anwendung nicht reglementiert: Es galt, mit allen Mitteln, d. h. mit „Methoden der physischen Beeinflussung“, die notwendigen Aussagen aus den Menschen „herauszuprügeln“.

Dazu gehörten Schläge und alle Arten von Misshandlungen: zum Beispiel Verhungern, erzwungener Schlafentzug, Aufhängen an der Decke. 1939 erließ Moskau den Befehl, die Folter selektiv anzuwenden – nicht bei allen, sondern nur bei „ungeheuerlichen“ Verschwörern, die sich nicht melden wollten, die nicht reuig waren.

1953, nach Stalins Tod, kam das Berijew-„Tauwetter“. Es wurde ein Befehl erlassen, der die Anwendung von Folter bei Verhören verbot. Es wurde beschlossen, sich ausschließlich an der Strafprozessordnung zu orientieren, und es kam zu Amnestien.

Wie konnten die Repressierten überleben?

Auf wundersame Weise und mit Gottes Hilfe. Nun, und natürlich haben die Einheimischen sie gerettet. Die Kasachen halfen mit Lebensmitteln, Sachen, Kleidung. Sie nahmen uns herzlich auf, teilten alles, was sie hatten. Ohne die Hilfe der einheimischen Bevölkerung wäre es ziemlich schwierig gewesen.

Im Bezirk Aktogaj in der Region Karaganda, wo ich geboren wurde, gab es viele russische Kulaken und unterdrückte Deutsche. Fast alle von ihnen sprachen die kasachische Sprache. Nicht umsonst heißt es dort: „Ein Volk – ein Schicksal.“ Hier manifestiert sich der Humanismus – in Toleranz, gegenseitigem Respekt, Wohlwollen, interreligiöser Harmonie.

Sollten Ihrer Meinung nach Dokumente über Repressionen freigegeben werden?

Ich bin der Meinung, dass das, was in den Personalakten der Gefangenen steht, wahrscheinlich schon aus ethischen Gründen nicht zugänglich gemacht werden sollte. Welchen Sinn hat es, die Namen von Informanten oder Vernehmungsbeamten zu kennen?

Aber es ist höchste Zeit, allgemeine Informationen freizugeben, einschließlich Informationen über die Haftbedingungen. Sie sollten allen und jedem zugänglich gemacht werden, damit wir das Ausmaß der Repression, die Zahl der Opfer, die Orte der Bestattung beurteilen können. bis jetzt sprechen wir nur ungefähr darüber.

So wird offiziell davon ausgegangen, dass etwa 25.000 Menschen in den Gulag-Lagern auf dem Gebiet der Kasachischen SSR ums Leben kamen, was sehr zweifelhaft ist. Wahrscheinlich waren es viel mehr Opfer. Russische wissenschaftliche Quellen zum Beispiel geben auch andere Zahlen an.

Es ist notwendig, eine internationale Kommission zu bilden und die Archive zu öffnen, um ein wahrheitsgetreues Bild der Geschehnisse zu erhalten, objektive Daten zu sammeln und sie zu untersuchen. Nochmal: Es ist schwierig zu beurteilen. es gibt keine genauen Zahlen, es gibt viele Widersprüche, und jeder Forscher hat seine eigene Sichtweise.

Wie können die Nachkommen die notwendigen Informationen über ihre repressierten Verwandten erhalten?

Wir erhalten viele Briefe an das Museum mit der Bitte um Informationen über das Schicksal unserer Vorfahren: Großväter, Großmütter und so weiter. Früher haben wir uns an das Innenministerium, den Ausschuss für Rechtsstatistik usw. gewandt. Doch im Jahr 2023 wurden alle Akten über Sondersiedler und Gefangene der Region Karaganda an das Präsidentenarchiv in Almaty übergeben.

Es wird davon ausgegangen, dass dort eine einheitliche Datenbank eingerichtet wird. Bis dahin muss man sich an das Komitee für Rechtsstatistiken und besondere Aufzeichnungen wenden, das in Astana ansässig ist. In diesem Fall ist es erforderlich, einen Antrag zu stellen und Kopien von Dokumenten beizufügen, die die Verwandtschaft bestätigen.

Marina Angaldt
Übersetzung: Annabel Rosin

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