Alle lassen ständig alles los. Das ist gerade in. In der vorherigen Modewelle haben alle ihr Leben simplified und entschleunigt. Das war weniger nervig, weil das jeder für sich im eigenen Stübchen tat und anderen in Ich-Botschaften davon erzählte. Das Neue an der Loslasserei ist, dass die Sätze mit „Du musst …“ anfangen, schon mal sehr ungünstig, und dann auch noch nach dem „… loslassen“ aufhören.
Was genau es loszulassen gilt und wie das konkret gehen soll, bleibt dabei ungewiss. Da ist ja sogar das Motto „Frieden für alle“ konkreter. In der vagen Unfassbarkeit ist das Loslass-Dingsbums auf alle Lebensbereiche übertragbar: Familienkonflikte, Beziehungsstress, Stress auf der Arbeit, im Alltag. Gesundheitliche Beeinträchtigungen, Existenzängste. Alles kann im Nullkommanix und ohne weitere Hilfsmittel behoben werden, wenn man nur eines konsequent tut – loslassen.
Mann, ist das anstrengend. Schweißtreibender als Leistungssport. Die Top-Loslasser lächeln auch ständig, weil sie alles positiv sehen und sie gar nicht genug davon kriegen können. Das haben sie aus vorherigen Trends gelernt und mitgenommen. Was kann daran falsch sein, mögen Sie vielleicht denken. Ja bitteschön, aber denken Sie das doch mal konsequent zu Ende, wo führt das hin?
David Precht hat es in seinem Buch über die Liebe treffend zum Ausdruck gebracht: Wer will schon ein Mensch sein, geschweige denn mit solchen zu tun haben, die nichts und niemanden mehr brauchen, schon gar nicht die Liebe, weil sie so hervorragend losgelassen haben. Selbstverliebte Dauerlächler, die über allem drüberstehen, die möchte man doch am liebsten … Sag ich jetzt. Nicht Herr Precht. Und wo landet die Volkswirtschaft, wenn der ganze Ehrgeiz und Wettbewerbscharakter losgelassen wurde? Und was ist mit der beweisbaren Wahrhaftigkeit und Naturgewalt aus Chemie, Biologie, Neurologie, Physik usw.? Siehste! Eben! Hoffentlich geht diese gesellschaftliche Mode bald vorüber.
Man stelle sich nur vor: eine Nonstop-Kuschelpuschel-Heilewelt, in der jeder für jeden und alles Verständnis hat. Loslassen mit Ken und Barbie: „Du, Ken-Bär, gehen wir spazieren?“ „Aber Barbie-Maus, wir haben doch das Barbie-Wohnmobil und die Barbie-Pferde und den Big Jim-Jeep …“ „Ach, Ken-Hase, das habe ich alles bei ebay verschenkt. Ich habe in meinem Barbie-Loslass-Kurs gelernt, dass man eigentlich nichts braucht.“ „Du, Barbie-Schatzi, dann geh ich aber vorher noch kurz in meinen Hobbykeller.“ „Ken, du kannst ruhig sagen, dass du in den Puff gehst. Wir wollen doch immer ehrlich sein. Und da ich losgelassen habe, habe ich keine Besitzansprüche mehr an dich und nehme nichts persönlich.“
„Barbie, dann macht es dir wirklich nichts aus, dass ich in Wahrheit auf mollige Frauen stehe und nicht auf so Hungerhaken wie dich?“ „Ken-Liebling, sicher nicht. Und wenn du genug losgelassen hast, kannst du verkraften, dass ich eine Affäre mit Big Jim habe.“ Und so gingen sie lächelnd auseinander, jeder tut heute, was er will, und niemand braucht nichts und niemanden mehr. Herrlich!
Und jetzt zurück zur Wirklichkeit, in der u.a. ein schmerzender Rücken, eine leidende Mutter, ein großer Stapel Arbeit und ein hundsgemeiner Ex-Vermieter auf mich warten. Ich habe ja schon losgelassen, was das Zeug hält, aber – es ist immer noch alles da. Ich glaube, da muss ich mit konservativen Methoden ran: mit einer gehörigen Portion Konsequenz, einer Handvoll Bestimmtheit und einer kleinen Prise Aggressivität.
28/05/10