Maria Gliem aus Frauenwaldau, dem heutigen Bukowice in Polen, hat einen Teil ihrer Kindheit als Vertriebene verbracht. Ihre Flucht führte sie nach Hessen, wo vor 70 Jahren die ersten Heimatvertriebenen ankamen. In ihrer heutigen Heimat trägt Gliem dazu bei, dass ihre Erinnerungen an die Zeit in Polen und die Flucht nicht in Vergessenheit geraten. Aus diesem Grund hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Die DAZ veröffentlicht mit ihrer Erlaubnis Auszüge aus der Niederschrift.

Am Heiligen Abend 1944 begann für unsere Familie die schwerste und schlimmste Zeit meiner Kindheit. Mein kleiner Bruder Hansel war erst ein paar Tage alt. Mein Vater wurde seit dem Sommer vermisst, und es war Weihnachten. Unsere Nachbarin, Frau Natbyl, kam nach der Bescherung zu uns rüber und blieb bis 23 Uhr. In der Zwischenzeit waren wir Kinder noch einmal draußen, um nachzusehen, ob das Heu und die Mohnklöße, die wir dem Christkind hingestellt hatten, verschwunden waren. Danach hatten wir vergessen, die Haustür zu verriegeln. Als unsere Nachbarin nach Hause ging, sagte sie zu uns: „Ihr seid aber leichtsinnig, und wenn jetzt Partisanen herreingekommen wären, hätten sie uns alle umbringen können.“
Ich wusste was Partisanen sind. Im ersten Moment brachte ich kein Wort heraus, aber dann fing ich an zu zittern und zu schreien, man konnte mich gar nicht beruhigen. Mutter musste noch in der Nacht das ganze Haus absuchen und jede Ecke ausleuchten, bis ich mich endlich etwas beruhigt hatte und wir gegen 2 Uhr zu Bett gehen konnten.

In dieser Nacht habe ich nicht geschlafen, nur auf Geräusche gehorcht. Von dieser Stunde an blieb ich nicht mehr allein im Haus, egal wohin meine Mutter ging, ich war bei ihr. Diese Wahnsinnsangst hat mich nicht mehr verlassen, bis wir am 20. Januar 1945 flüchten mussten.

Front kam immer näher

Wir hörten schon die Schüsse von der Front in unserem Dorf. Unsere Tante Hedwig, die in der Führung in der NSDAP war, sagte uns, wir würden von einem Auto abgeholt, da wir fünf Kinder sind und Hansel erst ein paar Wochen alt war. Wir selbst hatten keine Pferde, aber Tante Hedwig fuhr mit zwei Wagen und vier Pferden los, nahm noch Bekannte mit, ließ uns aber zurück. Es kam kein Auto, und wir waren ganz verzweifelt, denn die Front kam immer näher. Mein Opa, Tante Anna, Onkel Bernhardt und Tante Agnes, die ja nebenan wohnten, warteten bis zuletzt mit uns, ob wir abgeholt werden. Sie hatten aber nur ein Pferd, und ihr Wagen war nur klein. Opa sträubte sich bis zuletzt, das Haus und das Vieh zu verlassen, er musste mit Gewalt mitgenommen werden. Onkel Bernhardt packte unser bisschen Gepäck ebenso auf den Wagen, und so zogen wir – Mutter und Tante Agnes mit je einem Kinderwagen und wir drei Mädels zu Fuß – los. Wir kamen nur zwei Kilometer weit bis zur Kirche, dann war die Straße blockiert, und so sind wir am Abend wieder nach Hause zurückgekehrt. Die Nacht war furchtbar. Das Vieh wurde noch mal mit viel Futter versorgt, und die Schüsse an der Front wurden immer lauter. An Schlaf war nicht zu denken. Von jedem Tier wurde noch mal Abschied genommen.

Maria Gliem

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