Maria Gliem aus Frauenwaldau, dem heutigen Bukowice in Polen, hat einen Teil ihrer Kindheit als Vertriebene verbracht. Ihre Flucht führte sie nach Hessen, wo vor 70 Jahren die ersten Heimatvertriebenen ankamen. In ihrer heutigen Heimat trägt Gliem dazu bei, dass ihre Erinnerungen an die Zeit in Polen und die Flucht nicht in Vergessenheit geraten. Aus diesem Grund hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Die DAZ veröffentlicht mit ihrer Erlaubnis Auszüge aus ihrer Niederschrift.
Wir hatten an Tante Marie in Frankenstein geschrieben, die dort in einem Kloster war. Sie war nicht mehr dort, aber eine andere Schwester hat die Briefe geöffnet und teilte uns mit, dass Tante Anna auch dorthin geschrieben hat und zwar aus Frauenwaldau. So erfuhren wir, dass Stoppocks in Frauenwaldau sind. Am Nikolaustag 1945 schrieb Tante Agnes den ersten Brief an Tante Anna. Drei Tage später ging es Opa wieder schlechter, er glaubte, es sei Heiligabend und wollte nur noch heim zu seinem Vieh. Am 13. Dezember waren Mutter, Bärbel und ich in der Kirche, als wir heim kamen, lag Opa im Sterben. Er sprach nicht mehr viel und bekam kaum noch Luft. Er hatte schon öfters die Sterbekerze und Weihwasser verlangt, doch dieses mal gar nichts und es ging dann doch sehr schnell. Wir hatten keine Uhr, aber er muss so gegen 22 Uhr für immer eingeschlafen sein. Wir waren alle bei ihm. Mit viel Betteln und Lauferei konnten wir ihn beerdigen. Einen Sarg (Kiste) ließen wir für ihn machen. Bretter hat Tante Agnes aus einem leer stehenden Gutshof geholt, Nägel hat sie in einer Scheune heraus gezogen. Einen alten Polen haben wir so lange angebettelt, bis er uns den Sarg zusammengenagelt hat. Im Sarg sah Opa so eingefallen aus, da habe ich mir geschworen, nie wieder fasse ich einen Toten an. Tante Agnes hat oft nach Haynau laufen müssen und alles musste heimlich geschehen, sonst wären die Russen wieder da, denn in dem Dorf war eine Kommandantur, und wie sollte der Sarg nach Haynau? Ein Pole sagte uns, wenn wir Futter für sein Pferd besorgen, fährt er uns den Sarg dahin. Wir haben kleine Kartoffeln und Schalen gesammelt und in einer Scheune ein Sack Heu gerupft, so konnten wir den Mann bezahlen. Für den Mann, der den Sarg gemacht hat, mussten wir auch noch Kartoffeln stoppeln. So traurig das alles war, so froh waren wir, dass Opa wenigstens ein richtiges Begräbnis hatte.
24. Dezember, Weihnachen. Nach Geschenken hat keiner gefragt, unsere Gedanken waren bei unserem Vater, bei den Verstorbenen und in der Heimat. Zu essen hatten wir nur Kartoffeln, aber wir wurden satt, denn in der Woche vor Weihnachten haben wir noch sechs Zentner Kartoffeln gestoppelt und am Heiligabend nochmals drei, denn das Wetter war noch offen. Wir haben die Karotten und Kartoffeln in einem Schuppen in die Erde eingegraben, aber als wir im Winter welche rausholen wollten, stellten wir fest, dass die Miete geplündert worden war. Da muss uns jemand beobachtet haben und für uns hieß es wieder hungern. Am 11. Januar 1946 war Bärbels, am 14.Januar Alis Geburtstag, aber das war noch schlimmer als im Vorjahr, da wir kaum noch etwas zu essen hatten. Am 19. Januar, an Susis Geburtstag, gingen wir wieder aufs Feld, um Kartoffeln in Strohschobern zu suchen, aber wir haben kaum etwas gefunden. Zwei Tage später klopfte wieder jemand nachts an die Haustür, aber unsere Burg hielt stand. Anfang März klopfte es wieder an der Tür, wir hatten eine Heidenangst, aber wieder mal Glück. Am 18. März, meinem Geburtstag, kam ein Brief von Tante Anna, wir haben uns sehr gefreut. Ende März legten wir uns einen Gemüsegarten an. Die Polen, denen wir unsere Kartoffelschalen brachten, gaben uns ein paar Samenkörner. Wir lebten sehr knapp, aber es war fast alles aufgebraucht und wir mussten betteln gehen.
Kurz nachem Susi und Bärbel zur ersten heiligen Beichte gingen haben die Russen wieder bei uns geklopft. Aber seit der Pfarrer bei Opa Frenzel war und unser Haus gesegnet hat, ist keiner mehr reingekommen. Ab Ostersamstag musste Mutter bei den Russen arbeiten. Ostern konnten wir uns durch unsere Bettelei endlich mal wieder richtig satt essen, wir waren recht zufrieden, nur Mutter musste die Feiertage arbeiten. In unserem Garten wächst es schon, aber wer wird es ernten? Der Geburtstag von Tante Agnes war auch sehr traurig, aber wir konnten ihr schon ein paar Blumen schenken. Mutters Geburtstag war auch sehr traurig, aber Blumen bekam sie auch. Wir haben den ganzen Tag von Vater geredet.