Maria Gliem aus Frauenwaldau, dem heutigen Bukowice in Polen, hat einen Teil ihrer Kindheit als Vertriebene verbracht. Ihre Flucht führte sie nach Hessen, wo vor 70 Jahren die ersten Heimatvertriebenen ankamen. In ihrer heutigen Heimat trägt Gliem dazu bei, dass ihre Erinnerungen an die Zeit in Polen und die Flucht nicht in Vergessenheit geraten. Aus diesem Grund hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Die DAZ veröffentlicht mit ihrer Erlaubnis Auszüge aus der Niederschrift.
Teller, Messer und Gabeln gaben uns liebe Nachbarn, zum Kochen und Waschen mussten wir das Wasser in der Nachbarschaft holen, und zwar in einem Topf, denn einen Eimer hatten wir nicht. Aus Mangel an einer Schüssel wurde uns im Hof Wasser über die Hände geschüttet, damit wir uns waschen konnten. In diesem Haus wohnten auch Oma Piekenhahn mit ihrem erblindeten Mann. Sie waren beide über 70 Jahre alt, aber sie halfen uns mit dem Allernotwendigsten aus, denn es gab ja nichts zu kaufen.
Opas Krankheit verschlimmerte sich. Er hatte großes Heimweh und wollte immer zu Fuß zurück gehen. Am 15. März 1945 dachten wir, er stirbt, und er bekam das Sterbesakrament. Einige Tage später, als es Opa etwas besser ging, gingen Tante Agnes und ich in die Nachbardörfer, um Tante Anna zu finden. Ein paar Bekannte haben wir auch getroffen, nur Tante Anna nicht. Wir sind morgens um 8.00 Uhr in der Früh los und waren nachts um 24.00 Uhr zurück. Es war ein schöner Ausflug, aber wir hatten kein Gefühl mehr in den Beinen, denn wir waren die Berge nicht gewohnt. Viele Wege sind wir gegangen, durch Dörfer und Städte, aber keine Spur von Tante Anna.
Am 18. März war mein Geburtstag. Ein netter alter Herr aus der Nachbarschaft hatte einen großen lenkbaren Schlitten, auf dem sechs Personen Platz hatten.
Er hat uns Kinder eingeladen, und wir fuhren etwa 2 km bis nach Lichtenstadt, denn es ging ja immer bergab. Zurück mussten wir den Schlitten ziehen, aber es war wunderschön. In Merkelsgrün gingen Susi und ich auch wieder zur Schule, sie war einklassig, aber ganz gut. Am 21. März machten wir uns wieder auf die Suche nach Tante Anna, diesmal nach Ullersgrün. Der Weg war nur eine Stunde, aber über einen hohen Berg. Dort erzählten uns Leute, eine Frau Stoppock sei verstorben. Es war aber nicht Tante Anna, wie wir später erfuhren.
Anfang April erhielten wir Post von Tante Gotschling, sie wohnte in Braunschweig, und wir hatten ihr mitgeteilt, wo wir zur Zeit waren. Am 04 April schrieb uns Tante Anna, sie hatte von Tante Gotschling unsere Anschrift erfahren. Da war die Freude groß. Am
08. April fuhren Tante Agnes und ich zu ihnen nach Wartenberg. Um 3.45 Uhr fuhr unser Zug ab, nach 12 Stunden Fahrt und zwei Stunden Fußmarsch waren wir endlich da. Die Freude war riesig, aber zugleich waren wir alle sehr traurig. Wir packten von unseren Sachen, die noch auf dem Pferdewagen waren, soviel zusammen, wie wir tragen konnten.
Am 07. April fuhr uns Onkel Bernhardt mit dem Pferdewagen zum Bahnhof. Unser Zug fuhr um 8.30 Uhr ab. Um 23.00 Uhr waren wir wieder in Merkelsgrün. Dies war der letzte Zug, der in das Dorf fuhr und auch wieder zurück, denn es war ein Sackbahnhof. Tags darauf wurden fünf Lazarettzüge auf dem Bahnhof abgestellt und blieben da bis Kriegsende, da sie dort nicht von Tieffliegern beschossen werden konnten. Immer wieder hieß es, das Dorf muss geräumt werden, aber vorerst geschah nichts.