Mitten in einem Text finde ich das Wort „migrantisch“. Da kann jemand nicht richtig Deutsch, denke ich. Andererseits: interessante Wortbildung, jedenfalls nicht ganz doof oder unkreativ. Dann lese ich das Wort wieder und wieder, in verschiedenen Textquellen.

Langsam bekomme ich das Gefühl, dass ich hier diejenige bin, die hinterwäldlerisch ist. Wo guckt man nach, wenn man etwas schnell wissen will? Bei Google. 857 Einträge zeigt mir die Suchmaschine zu dem Begriff „migrantisch“ an. Na, so was! Ich schaue oberflächlich durch, ein Großteil der Beiträge lässt sich über das Wort aus, teils trockene Kritik aber auch Parodien mit Witz. Also bin ich zwar nicht die Erste, aber auch nicht die einzige, die sich über das Wort wundert. Aber andere Beiträge integrieren das Wort ganz selbstverständlich in ihren Sprachgebrauch. Da es also den Begriff nun gibt und ich mich in der Integrationsförderung engagiere, sollte ich mich auch damit auseinandersetzen und Position beziehen. Gebe ich mich modern und aufgeklärt und verwende das neue Wort einfach? Oder lehne ich es ab? Aus lexikalischen oder politischen Gründen? Mal prüfen. Lexikalisch gesehen macht es Sinn. Statt „Ausländer“ sagen wir nun „Migranten“ und für „ausländisch“ gab es bislang noch kein Pendant. Und damit macht es auch politisch Sinn, da wir durch die Erweiterung der Wortgruppe rund um den Begriff „Migration“ verbal und damit auch mental immer weiter abrücken vom „Ausländer“. Man könnte es auch als Erkenntnis- und Bewusstseinserweiterung interpretieren, indem wir anerkennen, dass es Menschen gibt, die nicht Deutsche oder Migranten sind, sondern die Deutsche sind aber auch etwas migrantisch, also migrantische Deutsche. Als „Migrant“ ist man in seiner Person in erster Linie durch den Migrationshintergrund geprägt; ist man hingegen „migrantisch“, wird nicht gleich die Persönlichkeit in den Vordergrund gestellt, sondern migrantisch ist eine von vielen Eigenschaften. Na, das klingt doch gut.

Ob sich diese besagten Personen auch über den Begriff freuen oder sich selbst als migrantisch bezeichnen würden, ist fraglich. Aber sie hätten sich ja noch viel weniger als „ausländisch“ bezeichnet und haben auch nicht das Bedürfnis, ständig über sich selbst zu reden und festzustellen, was sie nun sind oder nicht sind.

Aber dass wir darüber reden, und zwar möglichst differenziert, ist wichtig. Also, ein gesellschaftspolitischer Fortschritt? Vielleicht. Vielleicht hat sich aber auch nur jemand in der Wortkiste vergriffen, und der Begriff ist zufällig entstanden – wie so manche Erfindungen. Aber ob gewollt, Zufall hin oder her, das Wort ist da und politisch korrekt. So weit zur Theorie. Aber rein pra Wort in meine Ausdrucksweise einbringen kann. Mal ausprobieren: „Du bist so migrantisch!“ Klingt eher wie ein Lob oder eine Beschimpfung. Ein paar Tage sind verstrichen, und ich will mir heute noch mal Anregungen über Google suchen: Heute sind es nur noch 803 Einträge, nanu!? Ist das ein Zeichen, dass sich das Wort langsam wieder zurückzieht und aus dem Wortschatz verschwindet?

Na, dann muss ich den neuen Begriff jetzt, so oft es geht, verwenden, damit er sich möglichst bald integriert und einbürgert – wie es die dazugehörigen Personen schon längst getan haben.

Julia Siebert

23/02/07

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