Seit ich aus meinem geliebten Multikulti-Viertel auf die Dörfer gezogen bin, habe ich unabhängig meiner Freundschaften nur noch beruflich und auf dem Papier mit der Vielvölkerei zu tun. Nun bin ich durch einen beruflichen Einsatz ungeahnt in ein höchst buntes Treiben, nämlich mitten im Rotlichtviertel der Stadt München gelandet, da mein Hotel in Bahnhofsnähe gelegen sein sollte. Davon war im Stadtplan nichts zu sehen. Aber nicht so schlimm. Die Bahnhofsgegend einer jeden Stadt ist nie die schönste Gegend, aber auf dem sehr kurzen Weg zur Unterkunft hatte ich nicht annähernd das Gefühl, in München zu sein.

Ich bin gefühlten elf Nationen begegnet, u.a. aus arabischen, afrikanischen, fernöstlichen Ländern. Und in diesen ethnischen Gruppen gab es wiederum eine große Vielfalt zu bestaunen, die Scheich- und Schleierkleidung war sehr facettenreich. Darunter gab es auch Deutsche. Und entsprechend der Bevölkerungsstruktur gibt es dort alles an Geschäften, was man zum Leben braucht. Auch scheinen alle mit ihrem Stadtteil zufrieden, denn sie schlenderten mit einem Lächeln und in aller Seelenruhe über den Boulevard. Eine funktionierende Integration, super. Das hätte ich München gar nicht zugetraut, allenfalls Köln oder Berlin.

Also insgesamt schön. Wissenschaftlich und aus der Vogelperspektive betrachtet. Jedoch muss ich zugeben, dass ich mir nach dem mehrmonatigen Multikulti-Entzug vorkam wie ein Landei und mich in dem quirligen Treiben nicht sogleich zurechtfand. Müde und hungrig quälte ich mich mit meinem Rollköfferchen durch die Menge, fand keine Lücken in den Gruppen, um dazwischen durchzuhuschen, rechts und links kam ich auch nicht vorbei. Es war warm und laut. Jetzt wünschte ich mich doch spontan in einen ruhigen und gleichförmigen Vorort mit braven Spießbürgern und leeren Bürgersteigen in ein gediegenes piefiges Gasthaus.

Meinen Frieden mit meinem Übernachtungsort fand ich eigentlich erst, nachdem ich eingecheckt war, mich kurz erholt, erfrischt und in einem ruhigen vietnamesischen Restaurant gesättigt habe, wo ich der einzige Gast war. Nun hatte ich alles erledigt und kein spezifisches Ziel mehr im Blick und konnte auf dem Rückweg zum Hotel ebenfalls schlendernd diese freundliche Atmosphäre genießen.

Im Fazit heißt das, dass man an Multikulti gewöhnt sein bzw. auch manchmal unfreiwillig reingestupst werden muss. Wie bei vielen anderen Dingen auch. Hätte man vorher gewusst, was auf einen zukommt, hätte man es nicht getan. Im Nachhinein war vieles schön und bereichernd. Und manche Leute muss man zu ihrem Glück zwingen usw.

Meinen zweiten Toleranztest musste ich bestehen, als ich am nächsten Tag in einem bayrischen Biergarten das WM-Endspiel sah. Ach wie schön, so eine bunte gutgelaunte Menge. Vor dem Spiel. Doch während des Spiels wollte ich nur noch ungestört auf die Großleinwand blicken. Dabei verwandelten sich die zuvor hübschen Ballerinas in Nervensägen, die offensichtlich desinteressiert am Spiel waren, mir aber trotzdem mit ihren hübschen Frisuren im Blickfeld saßen. Die hinter mir sitzenden lustigen Spanierinnen verwandelten sich jäh in Störenfriede, weil sie vor lauter Aufregung und südländischem Temperament rumzappelten und mich ständig hart in den Rücken stupsten. Diesen Test bestand ich nicht, ich war am Ende höchst aggressiv. Einzig kann man mir zugute halten, dass ich die Aggression in meinem großen Bierkrug ließ.

Den dritten Toleranztest bestand ich nur mit Ach und Krach, als ich auf dem Rückweg noch mal die Vielfaltsluft einsaugen wollte, dann aber ganz plötzlich ganz schnell meinen Zug erwischen musste und die zuvor lustige Menge zu einer Hürde in meinem Hindernislauf wurde.
Nun, Multikulti muss man trainieren und darf nicht zu lange aus der Übung kommen, um es genießen zu können. Zudem muss man entspannt und ausgeruht sein. Von nun ab buche ich meine Unterkunft nicht mehr zufällig, sondern vorsätzlich im Rotlichtviertel.

Julia Siebert

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