Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat Texte zentralasiatischer Experten unter anderem zur Geschichte der Region herausgebracht. DAZ-Autor Ulf Engert warf einen kritischen Blick auf die historischen Inhalte und verglich hiesige Sichtweisen mit der europäischen Geschichtsforschung.

Zentralasien, pardon die erstmals eigenständigen zentralasiatischen Republiken, wollen eine eigene Geschichtsschreibung. Warum? Sie sind auf der Suche nach einer Identität, die ihnen seit der russischen und dann sowjetischen Kolonisation verwehrt wurde. Natürlich muss dazu die Geschichte herhalten und so wird konstruiert und rekonstruiert, um diesen angeblichen Mangel zu beheben. Dies alles muss natürlich unbedingt neu und glitzernd sein, so wie Astana und Almata, Entschuldigung Almaty, neu im grellen Licht des Reichtums entstehen und erleuchten sollen. Vielleicht kann man so von den ärmlichen Verhältnissen im Rest des Landes ablenken? Man bastelt sich nun eine rein mittelasiatische, pardon wieder ein Fauxpas, eine kasachische, usbekische, kirgisische oder tadschikische Identität, um sich endlich sicher sein zu können: „Wir waren schon immer hier, deswegen gehören wir hier her und wir haben das Recht auf einen Staat.“

Der Sinn des Sammelbandes „Zentralasien: Eine Innenansicht“, herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), war es, diese Argumentation nicht zu teilen, und eine realistische postkoloniale Analyse der vier semidemokratischen Systeme zu liefern.

Was sagen nun die zentralasiatischen Experten und Wissenschaftler über die Geschichte Zentralasiens? Die Historikerin Irina Jerofejewa liefert einen kurzen und ojektiven Abriss der kasachischen Geschichte, der nicht neu aber nach wissenschaftlichen Maßstäben haltbar scheint. Zainitdin Kurmanow von der kirgisischen Seite setzt die Kirgisen mit den Hethitern, die bekanntlich eine indogermanische Sprache benutzten, vor Urzeiten verschwanden und nur ein paar Steintafeln mit Keilschrift auf dem Gebiet der heutigen Türkei hinterließen, in ein: „unmittelbares“ Verwandtschaftsverhältnis. Er versteift sich auf die These, dass die Kirgisen Europiden mit: „roten Haaren und blauen Augen“ waren und diese in der Weltgeschichte des frühen Mittelalters eine bedeutende Rolle spielten. Eine verbreitete und weitestgehend anerkannte Theorie in den allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaften ist jedoch die Kurgan-These, wonach die so genannten Indogermanen aus den Weiten Sibiriens stammen und von dort aus nach Indien gewandert sein sollen. Ob die Ur-Kirgisen nun zu den indogermanisch sprechenden Stämmen gehörten, ist nirgends belegt. Und ob die Kirgisen in einer Epoche der Weltgeschichte eine überaus bedeutende Stellung beanspruchen können, ist auch sehr fraglich, da sie zum Beispiel in der modernen Geschichtsschreibung kaum erwähnt werden. Gut möglich ist, dass sie irgendwann in der Geschichte Mittelasiens eine größere Rolle spielten. Nun ja, so sind die verschiedenen Sichtweisen auf die Geschichte. Die mongolische Herrschaft über die Kirgisen im Hochmittelalter hätte eine Verschmelzung der indogermanischen Kirgisen mit den turksprachigen Stämmen zur Folge. Zitat: „Das kirgisische Volk verlor seine ursprüngliche Erscheinung, die Sprache und die Schrift, die Lebensordnung und die Kultur.“ Im Weiteren, so scheint es, versucht Kurmanow mit seiner Argumentation nachzuweisen, dass seit dem Untergang der indogermanischen kirgisischen Elite das nun von den Turken assimilierte kirgisische Volk seinen Kampf um Unabhängigkeit nie aufgegeben hat und dieses Bestreben nach demokratischer Selbstherrschaft seinen Höhepunkt in den Bischkeker Ereignissen des Jahres 2005 fand. Sogar dem unbedarften Leser fällt auf, dass der Autor ins Schwärmen für sein Volk gerät und eine gelinde ausgedrückt mythologisierende Histographie betreibt.

„Die Tadschiken sind das Volk Zentralasiens mit der vermutlich ältesten historischen Vergangenheit.“ So beginnt der historische Abriss über die Geschichte Tadschikistans. Was sagt uns dieser Satz? Vermutlich nichts! Es wird kein Hinweis darauf geliefert, warum gerade das tadschikische Volk die ältesten Wurzeln in Zentralasien hat. Dies wäre sehr hilfreich, um eine solche Aussage verstehen zu können. Gerade in einem schon zu Urzeiten multiethnischen Raum, welche durch Assimilation und Wanderungsbewegungen gekennzeichnet war, muss man solche Aussagen mit Vorsicht genießen. Suchra Madamidschanowa, welche Historikerin und Ethnographin ist, ergeht sich im restlichen Text in einer detailliert ethnographischen Beschreibung von Heirats- und Fruchtbarkeitsritualen, die teilweise bis heute in tadschikischen Gebieten üblich sind. Der Leser fragt sich, ob die Autorin den Text verwechselt hat und versehentlich der FES einen ethnographischen Essay zu tadschikischen Sitten und Bräuchen anstatt einer kurzen Zusammenfassung der tadschikischen Geschichte zugesandt hat. Sie bewegt sich zumindest mit ihrer Form der Beschreibung im Rahmen der modernen westlichen Geschichtswissenschaften, der jegliche „Großtheorie“, welche sich einer umfangreichen Beschreibung widmet, verdächtig ist.

Edward Rtweladse, Kenner der Kultur und Geschichte Zentralasiens, verlegt den Geburtsort des Hellenismus nach Zentralasien und bezeichnet diesen als Glaubensrichtung. Soweit bekannt ist, spiegelt der Terminus Hellenismus die Vermischung der antiken griechischen Kultur, besser gesagt der griechischen Philosophie, mit dem antiken römischen Staatswesen wieder. Wie man daraus erkennen kann, ist dies keine religiöse Bewegung, sondern die Idee der Polis, also der Demokratie, der Herrschaft der freien, gebildeten und verantwortungsbewussten Bürger, die im militärischen Ordnungsprinzip des römischen Staatswesens aufgeht. Unschwer ist auch schon aus den geographischen Ortsbezeichnung Hellas abzulesen, dass die Zentren dieser Kultur nicht in Asien, sondern im mediterranen Raum zu suchen sind. Natürlich bezweifelt niemand, dass der Kult des Zarathustrahs und der Mitras-Kult, deren Wurzeln im heutigen Iran und Teilen Mittelasiens liegen, einen Einfluss auf die griechische und besonders auf die römische Antike hatten. Im weiteren Verlauf ergeht sich Rtweladse in einer blassen chronologischen historischen Abhandlung, die nichts Neues für den Leser bringt.

Alle vier Autoren verlieren das Ziel aus den Augen, eine postkoloniale Historiographie zu liefern, die sich kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzt. Nur der kirgisische Autor geht auf die Epoche der postsowjetischen Geschichte ein und beleuchtet sie kritisch. Der Rest der Essays ist relativ trocken und liefert keine differenzierten Betrachtungen zur neueren sowie neusten Geschichte und kann nicht recht überzeugen. Unangenehm erscheinen die frühgeschichtlichen Betrachtungen, denen sich alle außer Irina Jerofejewa hingeben, da sie in den Äußerungen eher spekulativ sind, als das sie objektive Aussagekraft beanspruchen können. Besonders in einem Gebiet, das durch eine Vielzahl von ethnischen Gruppen, starken Wanderungsbewegungen, Nomadenwesen, häufig wechselnden Herrschaftseliten, sprich ungeklärten Herrschaftsnachfolgen, geographischen und klimatischen Extremen gekennzeichnet ist, lassen sich äußerst schwer Erkenntnisse über die Historie und vor allem über die Frühgeschichte eruieren. Es scheint, als wollten die Autoren einen Urmythos konstruieren, um die nun erreichte staatliche Unabhängigkeit, eine noch zu erreichende ethnische Homogenität und die künstlich entstandenen Grenzen zu rechtfertigen. Dabei kann man als Leser unschwer erkennen, dass dieses Bestreben seinen Ursprung in einer noch nicht gefestigten nationalstaatlichen Identität hat, die in Anbetracht der multiethnischen Situation Zentral-asiens auch nicht herstellbar ist. Die russische und sowjetische Herrschaftsmethode des künstlichen aber nicht willkürlichen Teilens und Vermischens geht daher auch ca. 15 Jahre nach dem Niedergang der UdSSR auf. Leider wird das Trennende, aber nicht das gemeinsame Erbe und die gemeinsamen Probleme der zentralasiatischen Ethnien betont. Dies jedoch könnte einen fruchtbaren Ansatz für einen vernünftigen Dialog über die Zukunft dieser multiethnischen mit Ressourcen gesegneten und Problemen belasteten Gebiete liefern.

15/06/07

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