Am Stadtrand von Almaty, in einem großen grauen Haus, umgeben von einer hohen Mauer mit einem riesigen Metalltor, wohnt Andrea Blanc mit ihrem Ehemann Wassili Jewsejew und den gemeinsamen Söhnen Simeon und Daniel. Seit zwei Monaten hat die lebhafte Familie ein neues Mitglied: die dreijährige Anna. Das zierliche Mädchen mit blonden Haaren und dunklen Augen hat bis dahin in einem Kinderheim im Bergdorf Issyk gelebt. 

Mit einer rosa Spange im Haar tobt Anna unbekümmert mit ihren beiden Geschwistern durch die Küche und das Wohnzimmer, gerade so als ob es schon immer so gewesen wäre. Scheinbar nichts deutet auf ihre traurige Vergangenheit hin. „Annas Mutter ist Alkoholikerin, ihr Vater ist schon kurz nach ihrer Geburt gestorben”, so Andrea Blanc, Adoptivmutter des Mädchens. Sichtlich berührt fährt die christliche Missionarin fort: „Anna hat vieles durchmachen müssen: Schläge, Trinkgelage und tagelanges Hungern.”

„Eigentlich wollten wir nur mal so vorbeigucken“
Auf die Frage, warum Andrea und Wassili vor ein paar Monaten den Entschluss gefasst haben, ein weiteres Kind in ihre Familie aufzunehmen, entgegnet Andrea Blanc: „Mit dem Gedanken, ein Kind zu adoptieren, habe ich schon immer gespielt. Der Wunsch zu helfen ist ganz einfach in meinem Herzen.“
Der erste Kontakt mit Anna ergab sich allerdings eher zufällig. Ein gemeinsamer Familienausflug an einem heißen Tag im August 2005 endete bei Freunden im Kinderheim in Issyk. Als Missionarin unterstützt die Deutsche mit ihrem kasachischen Ehemann schon seit längerer Zeit Kinderheime in Kasachstan. So entstanden viele freundschaftliche Kontakte, auch zur Einrichtung in Issyk. „Eigentlich wollten wir nur mal so vorbeigucken”, erzählt die Missionarin. Der dreijährige Sohn Daniel sei neugierig durch die Zimmer des Heims umhergelaufen. „Nach ein paar Minuten stand er auf einmal mit einem kleinen Mädchen an der Hand im Türrahmen”, erzählt die deutsche Missionarin und ihr Blick wandert herüber zu Anna, die quietschend mit ihren Brüdern auf dem Sofa umherspringt. „Er wollte ihre Hand gar nicht wieder loslassen.” Auch ihr Gatte, Wassili Jewsejew, sei sofort von dem kleinen blonden Mädchen entzückt gewesen. „Mein Mann hatte immer wieder beteuert, dass er sich nie ein Kind in einem Heim einfach so aussuchen kann. So hat Anna aber durch einen Zufall zu uns gefunden. Auf dem Rückweg im Auto waren wir alle irgendwie ganz aufgeregt. Wir mussten die ganze Zeit an Anna denken und haben schon damals gespürt, dass sie einfach zu unserer Familie dazugehört.” Drei Tage später erkundigte sich die deutsch-kasachische Famile in Issyk nach den Möglichkeiten einer Adoption.

„Für eine Trillion geb ich dich nicht wieder her”
Nach der Freigabe durch einen Verwandten von Anna stand diesem Schritt, nach einer juristischen Prüfung, formell nichts mehr im Weg. Da das in Kasachstan geltene Adoptionsgesetz für Ausländer andere Bestimmungen und längere Fristen vorsieht, entschied sich die Familie, Anna zunächst von Wassili Jewsejew adoptieren zu lassen. Zurzeit erfolgt in einer zweiten Phase die familieninterne Adoption durch Andrea Blanc. Wenn dieser Schritt abgeschlossen ist, hat Anna auch vor dem Gesetz eine neue Mutter und einen neuen Vater.
Seit Dezember 2005 wohnt das kleine russische Mädchen bei ihrer neuen Familie und ist der ganze Stolz ihrer Brüder. Für ihr Alter wirkt die Dreijährige viel selbständiger, obwohl sie ziemlich klein ist und manchmal noch ein wenig unsicher auf den Beinen zu sein scheint. „Sie wurde oft gezwungen, auf einem Platz zu sitzen und durfte sich nicht bewegen, deshalb sind ihre Beine noch so schlecht entwickelt”, erzählt Adoptivmutter Andrea Blanc sichtlich berührt. Auch die frühere Unterernährung des Kindes hat noch heute Folgen. Anna isst auch heute noch sehr viel langsamer und häufiger als die beiden anderen Kinder, da der Magen sich noch an regelmäßige Nahrung gewöhnt. „Ich muss auch immer etwas zum Essen auf dem Tisch haben, damit Anna nicht unruhig wird”, so die Missionarin. Dass die Adoption viel mehr von der Familie abverlangen würde als nur die Überwindung bürokratischer Hürden, war allen klar. Und Probleme sind da schon vorprogrammiert: „Anna fragt immer wieder, ob es genügend warme Sachen gibt und hat vor allem am Anfang immer wieder gefragt, ob sie denn auch keiner wieder wegholt”, schildert Andrea Blanc die Situation. Anfängliches Einnässen im Kindergarten aus Angst, nicht mehr abgeholt zu werden, oder die noch immer präsente eigene Hemmung, Anna Grenzen zu setzen, stellen die Familie vor große Herausforderungen. Jedoch zurückgeben will bei den Blanc-Jewsejews das kleine süße Mädchen mit den blonden Haaren keiner. Der neunjährige Simeon erzählt stolz: „Anna ist jetzt meine neue Schwester. Wir haben sie aus dem Kinderheim geholt, und für eine Trillion gebe ich sie nicht wieder her.”
Auch wenn der Anfang vielversprechend ist, nimmt die deutsch-kasachische Familie den Rat des Kinderheimes sehr ernst, dem Kind nicht zu viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und Geduld zu haben. Andrea Blanc: „Ich weiß, dass es noch viele Probleme geben kann und es seine Zeit braucht, bis wir als Familie zusammenwachsen.”

17/02/06

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