Seit einigen Tagen weist die deutsche Seite der Online-Enzyklopädie Wikipedia mehr als 205.000 Artikel auf. Sie ist damit dem neuen Brockhaus mit 300.000 Stichworten dicht auf den Fersen. Doch kann die Online-Enzyklopädie mit dem bekanntesten deutschsprachigen Lexikon konkurrieren?
205.000. Das war der letzte Meilenstein. „Richard von Drasche-Wartinberg, österreichischer Asienforscher, Industrieller und Maler” lautet der 205.000. Eintrag im deutschsprachigen Ableger der Online-Enzyklopädie Wikipedia, erstellt am 2. März 2005 um 16.56 Uhr. Mittlerweile sind über 207.000 Artikel in der deutschen Wikipedia verfügbar, und täglich kommen fast 500 Einträge hinzu. Etwa alle 16 Wochen verdoppelt sich der Umfang des Internet-Lexikons.
Damit stellt Wikipedia eine ernsthafte Bedrohung für die klassischen Nachschlagewerke wie den Brockhaus dar. Eine mehrbändige Ausgabe des Branchenführers ist noch immer eine Investition fürs Leben, die Informationen darin gelten als verlässlich und seriös. Deshalb ist man bei Brockhaus angesichts des exponentiellen Wachstums der Einträge bei Wikipedia auch skeptisch. „Objektiv gesichertes Wissen, durch 1.000 Wissenschaftler und die Redaktion garantiert” sind den Verlegern aus Mannheim wichtiger als bloße Masse. Dabei bringt der Brockhaus durchaus auch einiges auf die Waage. In diesem Jahr erscheint die 21. Auflage der Enzyklopädie, 30 Bände, 300.000 Stichwörter und insgesamt 60 Kilogramm schwer. Wie der Prozess gegen Michael Jackson ausgeht, was als die offizielle Opferzahl des Tsunami in Südostasien gilt, und wie sich der Gesundheitszustand des Papstes in den nächsten Wochen entwickeln wird, findet darin vermutlich keinen Eingang mehr. Denn ein Nachteil der gedruckten Enzyklopädie ist der Vorlauf, den sie benötigt, bis sie schließlich mit 1,60 Meter Länge im Bücherregal steht. Aktuelle Ereignisse bleiben deshalb oft unberücksichtigt.
Klar im Vorteil ist demgegenüber die Online-Enzyklopädie Wikipedia, die mittlerweile in einem Atemzug mit der Encyclopaedia Britannica und dem Brockhaus genannt wird. Sie ist kostenfrei, bereits in über zweihundert Sprachen verfügbar, und sie erfordert nichts weiter als einen Internetanschluss. Trotz anfänglicher Skepsis wird das mittlerweile ins fünfte Jahr gehende Internet-Kompendium zunehmend auch von Wissenschaftlern, Politikern, Medienmachern und anderen anspruchsvollen Lesern angenommen.
Das war lange Zeit keinesfalls selbstverständlich. Denn der Haken an Wikipedia ist der Ursprung der Informationen. Alle Artikel werden von den Nutzern selbst verfasst. Eine fachliche oder redaktionelle Kontrolle gibt es nicht. Was zunächst haarsträubend klingt und scheinbar jedwedem Unsinn Tür und Tor öffnet, hat dennoch System. Die Nutzer sind es nämlich auch, die die Einträge und deren Wahrheitsgehalt überwachen. Jede Veränderung einer Seite wird dokumentiert, ist jedem zugänglich, und jeder kann weitere Änderungen vornehmen. Hinzu kommt ein ebenfalls öffentliches Diskussionsforum zu den einzelnen Artikeln und die Bewertungen „Artikel des Tages” oder „exzellent” für besonders gelungene Einträge. Nur wenn die Leitidee des „wissenschaftlich neutralen Standpunkts“ grob verletzt wird, schreiten die ausnahmslos ehrenamtlich arbeitenden Administratoren der Wikipedia ein und entfernen populistische, selbstdarstellerische oder extremistische Informationen. Die freiwillige Selbstkontrolle funktioniert. Laut einer IBM-Studie halten sich absichtliche Falschinformationen meist nicht länger als fünf Minuten auf den Servern der Informationsplattform.
Trotzdem räumt Wikipedia-Gründer Jimmy Wales ein: „Zu jedem Zeitpunkt kann auf Wikipedia Unsinn stehen.” Der Amerikaner schickte im Januar 2001 das Online-Kompendium an den Start, zunächst in englischer Sprache und mit ehrgeizigem Ansinnen, die Idee im Internet schnell zu verbreiten und jederzeit zu aktualisieren. „Wikiwiki” stammt aus dem Hawaiianischen und bedeutet „schnell”. Offensichtlich ein gutes Omen, denn der deutsche Ableger folgte im Mai desselben Jahres, und mittlerweile gibt es die Wikipedia auch auf Plattdeutsch, Kaschubisch, Bündnerromanisch oder Georgisch.
Geld verdient Jimmy Wales mit Wikipedia nicht. Im Gegenteil, der Internetexperte finanziert das Projekt zum Teil aus seinem eigenen Vermögen. Verwaltet wird dieses Geld wie auch zahlreiche Spenden durch die Wikipedia-Stiftung. Sponsoring sehen die Betreiber als weitere Möglichkeit, die Plattform auch künftig als kostenloses Angebot bestehen zu lassen. So verhandelt die Stiftung im März 2005 mit Google über die Bereitstellung weiterer Server, damit die Anfragen auch künftig zufriedenstellend und schnell beantwortet werden.
Wer bei seiner Suche nach Macchiavelli, Hygrometer, Hebriden oder Dinoflagellaten noch immer den guten alten Brockhaus, das Rascheln von Papier und ein dickes Buch unter dem Kopfkissen bevorzugt, dem seien noch die neuen Wiki-Schwesterprojekte Wikiquote, die freie Zitatsammlung, Wikipedia Commons zur Suche lizenzfreier Bilder und Wikinews mit aktuellen Nachrichten empfohlen, die die „Fragen ans Netz“ zu einem Gesamterlebnis machen sollen.
Die deutschsprachige Wikipedia ist hier zu finden: http://www.wikipedia.de