Wie Älibek Ömirbekuly die Bühnen Kasachstans erobert
Quyin («Құйын») – zu Deutsch „Sturm“ – heißt die neueste Inszenierung des aufsteigenden Regisseurs Älibek Ömirbekuly des masa-Kollektivs für die Bühne des Staatlichen Kasachischen Akademischen Äuesow-Dramatheaters. Es erzählt eine skurrile Retrospektive auf die Geschichte Kasachstans unter russischer Herrschaft, vom Zarenreich bis hin zur Sowjetunion.
Frischer Wind im kasachischen Theater
Älibek Ömirbekuly sorgt mit Quyin mal wieder für frischen Wind im kasachischen Theater. Das Stück stellt die siebte Inszenierung des jungen Regisseurs dar und reiht sich somit ein in eine Tradition ausgefallener Visionen mit klarer Botschaft und starkem Eigencharakter. Quyin ist dabei ein entschieden kasachisches Stück, das sich inhaltlich als auch formell mit dem Dekolonisierungsprozess Kasachstans auseinandersetzt.
Denn die Geschichte des Landes war lange Zeit entweder zaristisch oder sowjetisch geprägt. Kasachische Geschichtsschreibung war in dieser Zeit tabu und konnte sich erst mit der Unabhängigkeit der kasachischen Nation etablieren, so dass diese heute vor der gleichen Herausforderung steht wie viele postsowjetische Nachbarn: Wie schreibt man eine neue Geschichte des eigenen Landes?
Der russische Adel als Narrenfiguren in Quyin
Es ist eine große Verantwortung, denn offizielle Geschichtsschreibung prägt alle Bereiche der Gesellschaft. Egal, ob in der Bildung, der Politik oder im Fernsehen – was gesagt wird, hat Einfluss auf die Selbstdefinition der kommenden Generationen. Die Schaffung einer gemeinsamen Identität geschieht dabei oft über das Mittel der Abgrenzung. In Quyin wird ein starker Widerspruch zwischen russischer Oberschicht und kasachischer Bevölkerung hergestellt, wodurch die Muster der traditionellen Geschichtserzählung dekonstruiert werden.
Die Perspektive auf den russischen Adel ist durchzogen von Hohn und Spott. Alles andere als nobel und heroisch, gleichen dessen Repräsentanten in dem Stück eher den Witzfiguren einer Commedia dell’arte. Die Situationskomödie beginnt mit der Familie Romanow, im Kreis über die Bühne rennend, während sie gigantische Fabergé-Eier vor sich hin rollen, auf der Flucht vor einem bewaffneten Goloschtschokin.
Nach der Ermordung der Zarenfamilie wird diese von der Kaiserin Anna von Russland abgelöst, die in ihrer massiven Gestalt nichts anderes als eine grobe Karikatur ihrer selbst darstellt. Für den Rest der Handlung taumelt diese immer wieder unter der Last ihres eigenen Gewichts über die Bühne und geht ihrem liebsten Zeitvertreib nach: Schmetterlinge fangen.
Von Palästen und Steppe: Die Hierarchisierung zweier Welten
Treffen die Welten von Palast- und Steppenbewohnern aufeinander, schwingt in den Interaktionen schon etwas fast Groteskes mit – von den Kasachen, die Anna Ioannowna figurativ niedermacht, bis hin zur Veranstaltung eines närrischen Banketts mitten in der Steppe für die Kaiserin. Quyin bemüht sich gleichzeitig, einerseits die langwierige koloniale Hierarchisierung der Geschichtserzählungen darzustellen, und andererseits die dadurch entstandene Stille um das Schicksal des kasachischen Volkes zu lüften.
Um dies zu visualisieren, instrumentalisiert das Stück die starke Symbolik der zwei physischen Ebenen, auf denen sich das Stück abspielt. Im Vordergrund steht dabei die zweidimensionale Welt des Regentenpalasts, welche mit schweren Vorhängen vor den Fenstern den Blick auf die Außenwelt versperrt.
Periodisch wird die Palastwand jedoch angehoben und die Zuschauer kommen in Berührung – nicht nur mit der Steppe selbst, sondern auch mit deren Bewohnern und ihren alltäglichen Problemen, der Missachtung, die Ihnen entgegengebracht wird, und vor allem der Hungersnot der 1930er Jahre.
Im Laufe der Handlung hinterlässt die musikalische Untermalung des Stücks mit dem Lied «Говорит Москва» („Goworit Moskwa“) der Gruppe Shortparis einen bleibenden Eindruck und erzählt von einer despotischen Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie der UdSSR, wo die eigene Bevölkerung ausgebeutet und verängstigt wird.
Quyin und die neue Erzählung der kasachischen Geschichte
Quyin bietet eine alternative Erzählung der kasachischen Geschichte, die sich bewusst von einer traditionellen, chronologischen Darstellung abwendet. Stattdessen reflektiert sie die Geschichte durch eine individuelle Linse. Quyin lehnt jegliche Objektivität ab und feiert stattdessen die subjektive Natur des kollektiven Gedächtnisses, das die Ereignisse neu interpretiert.
Der Sturm – Quyin – ist somit eine Reise in das Bewusstsein einer Nation, die versucht, sich selbst neu zu definieren. Es ist eine kollektive Bewältigung eines Traumas, die die Ereignisse der letzten Jahrhunderte ohne Scheu in ihren historischen Kontext einbettet. Es ist keine Flucht vor der jüngsten Vergangenheit in eine idealisierte Version der ursprünglichen kasachischen Gesellschaft, sondern eine Anerkennung dessen, was war, um sich nun auf die Zukunft zu konzentrieren – so wie Shakespeare es in seinem eigenen „Sturm“ sagte: „Alle Vergangenheit ist nur ein Prolog“.