Gewöhnlich feiern wir Ostern zusammen mit unseren Eltern, und im laufenden Jahr gab es da keine Ausnahme. Meine Frau, unsere Kinder und ich waren zu Besuch bei meiner Mutter, saßen am festlich gedeckten Tisch und erinnerten uns an unsere Verwandten und Freunde, sowie an die, die schon lange nicht mehr mit uns sind.

Mehrere Geschichten über meine Urgroßeltern wurden mir von meiner Großmutter Amalia erzählt. Später teilte auch meine Mutter ihre Erinnerungen mit. Meine Mutter und Großmutter hatten ein vertrauensvolles Verhältnis und bewahrten mehrere Geheimnisse der Familie.

Das Familienfest war zu Ende, draußen war es schon dunkel, und für einen Moment stellte ich mir vor, wie schön es wäre, den Ort zu besuchen, an dem die Seelen meiner Vorfahren ruhen; über den ich so oft so viel gehört hatte. Plötzlich klingelte mein Handy. Es war ein Anruf aus Deutschland. Meine Verwandten, die in Deutschland leben – das sind 8 Enkel und 17 Urenkel von meinen Urgroßeltern – hatten gesagt, dass das Familiengrab neu eingerichtet werden müsse, und mir diese ehrenvolle Aufgabe anvertraut.

Es hatte nicht lange gedauert, bis ich einen Dienstleister in Qysylorda gefunden hatte, der uns einen tollen Entwurf unseres Projektes vorstellte. Eine Woche später kaufte ich Bahntickets und bereitete alles Notwendige vor, was ich mitnehmen wollte.

Ort des Leidens, des Schreckens und des Todes

Es war für mich eine echt aufregende Reise in die Vergangenheit. Der Zug verließ Almaty und fuhr in Richtung Schijeli, das „neue Zuhause“ meiner Vorfahren, wohin die ganze Familie Mertins im Herbst 1941 deportiert wurde und lange Zeit unter Aufsicht der Kommandantur stand. Eine Kleine Bahnstation in der kasachischen Steppe, im Südwesten Kasachstans, ein Ort des Leidens, des Schreckens und des Todes für viele Russlanddeutsche.

Hier wurde meine Großmutter Amalia als 17-Jährige von ihrer Familie getrennt und in die Trudarmee zwangsmobilisiert. Von hier ging mein Urgroßvater Johannes mit seinem ältesten Sohn Alexander in die Trudarmee nach Sibirien. Alle drei haben nicht geahnt, dass sie ihre Ehefrau und Mama nie mehr wieder sehen würden. Meine Urgroßmutter Elgilina ist allein mit ihren vier kleinen Kindern Lidia, Rosa, Jakob und Arthur in der Nähe von Schijeli, in der Kolchose „Awangard“ geblieben. Sie war schon gesundheitlich angeschlagen, ohne Geld, ohne Ehemann und die zwei ältesten Kinder. Die Urgroßmutter kämpfte jeden Tag, um ihre vier kleinen Kinder zu ernähren und sie am Leben zu erhalten. Im Jahr 1943 starb sie infolge ihrer chronischen Unterernährung und der Krankheit.

Schijeli wurde von vielen Russlanddeutschen aus der ganzen ehemaligen Sowjetunion besiedelt. Seitdem hat sich vieles verändert, die meisten von ihnen sind in dieser Siedlung gestorben, andere kehrten in den neunziger Jahren in ihre historische Heimat zurück, und nur wenige sind geblieben. Das erste, was mir hier besonders auffällt, ist der dortige Friedhof, auf welchem Tote verschiedener Nationen ruhen, und wo man die Spuren von mehreren Deutschen, sogar deutschen Familien finden kann. Gerade hier ruhen in Frieden mein Urgroßvater Johannes und sein ältester Sohn Alexander. In der Kolchose „Awangard“, die 13 Kilometer von Schijeli entfernt liegt, gab es noch einen großen Friedhof, wo meine Urgroßmutter 1943 begraben wurde. Dieser Friedhof existierte noch bis Ende der 1970-er Jahre. Aus Hass gegenüber dem deutschen Volk war er zerstört worden. An seiner Stelle hat man die Traktoren mit Pflügen fahren lassen, und so wurde aus einem Friedhof ein Ackerland für Reisanbau.

Eine Gedenktafel für die Ahnen

Die Gräber des Urgroßvaters Johannes und seines ältesten Sohnes Alexander waren bis Ende Mai dieses Jahres in einem desolaten Zustand. Aber seit Juni sieht das Familiengrab ganz anders aus. Alles wurde neu eingerichtet: mit einem schönen Grabstein, einem neuen Zaun und einer Gedenktafel. Da das Grab der Urgroßmutter Elgilina endgültig verschollen war, haben meine Verwandten entschieden, eine Gedenktafel am Familiengrab einzurichten. Und so sind unsere lieben Vorfahren wieder zusammen: Johannes Mertins, seine Ehefrau Elgilina (geb. Fangrad) und ihr ältester Sohn Alexander. Nach dem Willen des Herrn hat alles erfolgreich geklappt und wir haben es so geschafft, wie wir es uns gewünscht haben.
Unter Tränen nahm ich Abschied und gab das Versprechen, dass die Erinnerung an meine Vorfahren in unserer Familiengeschichte nicht nur uns auf ewig im Herzen erhalten bleibt, sondern auch meinen Kindern, sowie auch Enkeln beigebracht wird.

Mein Aufenthalt in Schijeli dauerte eine Woche, während der ich noch vieles über meine Wurzeln erfahren habe. Es gelang mir, die Straßen zu besuchen, wo vor langer Zeit die Häuser meines Urgroßvaters Johannes und seiner Söhne Alexander und Jakob standen. Der Zahn der Zeit kennt keine Gnade. Auf den Grundstücken stehen jetzt neu gebaute Häuser, und es erinnert nichts mehr an das Leben meiner Vorfahren in Schijeli – nur das Familiengrab auf dem alten Friedhof.

Mein herzlicher Dank gilt allen meinen Verwandten, die in Deutschland leben und die unser Familienprojekt „Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen“ finanziert haben:

– Alexander und Eduard Mertins, Söhne von Alexander und Alida (geb. Schelinsky) Mertins;
– Max Ospanow, Sohn von Amalia Mertins und Samat Ospanow;
– Nelli, Irina, Johannes, Alexander und Elena Mertins, Kinder von Jakob und Lidia Mertins (geb. Stoll).

Valentin Ospanow

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