Behinderte werden in der Gesellschaft oft ausgegrenzt und haben keine Möglichkeiten zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Eine Organisation in Pawlodar hilft dort den Menschen, die anders sind. Unsere Korrespondenten aus Pawlodar berichten.

Es ist Herbst, aber es scheint, als ob der Sommer für ein paar Tage zurückgekehrt ist. An solchen Tagen ist es immer belebt auf der Uferpromenade in Pawlodar. Man hört Musik, fröhliches Geplauder und ausgelassenes Lachen der Kinder und ihrer Eltern. Plötzlich werden die Kinder stumm, laufen zu ihren Eltern und zeigen ihnen etwas. Nicht weit von ihnen geht eine Frau mit ihrem Sohn im Rollstuhl vorbei. Vielleicht fragen sie, warum dieser Junge nicht gehen kann? Man sieht behinderte Menschen hier nur selten auf der Straße, und es scheint, als gäbe es nur wenige. Aber so ist es nicht. Wer macht sich eigentlich Gedanken über das Leben mit Behinderungen?

Die Organisation „Samal” in Pawlodar hat sich dieser Menschen angenommen. Die Leiterin Sinaida Dmitrijewna Bagnenko hat immer alle Hände voll zu tun; dennoch hat sie sich bereit erklärt, über das Zentrum zu erzählen und alles zu zeigen. Samal ist der Name eines 14jährigen Mädchens aus Semipalatinsk, das am Tag der Eröffnung eines Forums gegen Kernwaffen an Leukämie gestorben ist. 1996 wurde die Organisation im Zusammenhang mit den durch die Atomtests in Semipalatinsk erkrankten Strahlenopfern gegründet und tritt seitdem für die Rechte der Behinderten ein, besonders für Kinder. Damals war „Samal” das einzige Zentrum dieser Art in Pawlodar.

Die Notwendigkeit für eine solche Einrichtung bestand jedoch schon viel länger. Nach statistischen Angaben wurden 1996 in Pawlodarer Gebiet mehr als 2500 Kinder mit Muskel- und Knochenerkrankungen registriert; 540 von ihnen hatten spastische Lähmungen, und fast alle stammen aus unvollständigen oder sozial schwachen Familien. In der Regel können betroffene alleinerziehende Mütter nicht arbeiten gehen, weil ihre Kinder ständige Pflege brauchen. Nadeschda Petrowna, stellvertretende Direktorin des Zentrums, sitzt selbst im Rollstuhl. „Ich war 16 Jahre alt, als mein Unfall passierte. Deswegen konnte ich die Hochschule nicht absolvieren. In solch einer Situation hat das Leben keinen Sinn mehr. Der Mensch vertieft sich in seine Probleme“, erinnert sie sich. „Damals habe ich verstanden, dass dies kein Ausweg ist. Man muss sich immer mit etwas beschäftigen, damit man seine Hilflosigkeit überwindet.” Später lernte sie die Lehrerin Sinaida Dmitrijewna kennen, die mit ihren Schülern eine Wohltätigkeitsaktion durchführte. Sie beschlossen, „Samal” zu gründen.
Pädagogen, Ärzte und andere Fachleute, die hier arbeiten, kann man zu Recht Enthusiasten nennen. Ihr Ziel ist es, eine vielseitige Persönlichkeit in den Kindern zu entwickeln. Sie bekommen hier eine vorschulische und schulische Ausbildung, was woanders in der Stadt nicht möglich ist, da allgemeine Schulen keine behindertengerechten Voraussetzungen bieten. Außerdem muss man mit ihnen individuell und nach einem speziellen Programm arbeiten. Was für gesunde Kinder selbstverständlich ist, ist für behinderte oft eine große Anstrengung. Bevor sie schreiben lernen können, müssen sie zuerst noch lernen, den Füller zu halten.

Das Zentrum bietet auch verschiedene Freizeitaktivitäten. Bei Sport und Spiel lernen die Kinder, sich zu bewegen, und trainieren ihre Körper. Da viele Kinder schwächlich sind, ist das sehr wichtig. Beim Theaterspielen lernen sie, deutlich zu sprechen und sind dann weniger schüchtern. Beim Basteln entwickeln sie die Beweglichkeit der Hände und Finger. Diese Unterhaltung, wie z.B. auch Kindergeburtstage, sind eine wichtige Ablenkung von den alltäglichen Problemen für die Kinder und ihre Eltern. Nach vielen gemeinsamen Jahren sind bereits feste Freundschaften entstanden.

Seit vielen Jahren arbeitet das Zentrum mit ausländischen Partnern z.B. aus den Niederlanden, Großbritannien und Russland zusammen. Eine Volontärin aus Deutschland, Stefanie Friedrich, die hier im vergangenen Sommer geholfen hat, erzählt ihre Eindrücke: „In der Begegnung mit den Kindern von „Samal” hat sich bestätigt, wie viel Menschen sich gegenseitig geben können.”

Die Hauptaufgabe des Zentrums ist, behinderte Kinder und Jugendlichen auf ein Leben in der „gesunden” Gesellschaft vorzubereiten. Hier lernen sie, sozial aktiv und unabhängig zu sein. Dafür wird eine neue, aus Europa übernommene Methodik angewendet: Behinderte und gesunde Kinder lernen und spielen zusammen. Für alle Beteiligten hat dies nur positive Wirkungen. Die nicht behinderten Kinder haben zum Teil behinderte Eltern, sie lernen hier Toleranz und Hilfsbereitschaft. Die behinderten Kinder versuchen, den gesunden ähnlich zu sein und entwickeln dadurch Selbstbewusstsein im Umgang mit anderen Menschen.

Seit fast zwei Jahren bekommt das Zentrum keine Subventionen mehr und existiert nur noch dank der Unterstützung durch Betriebe und Unternehmen der Stadt. Seitdem müssen die Eltern 35 Prozent der Kosten selbst tragen. Doch allein die Arbeit mit einem externen Logopäden kostet pro Stunde 700 Tenge. Fast alle internen Fachleute arbeiten dagegen unbezahlt, haben aber auch ihre eigenen Familien zu versorgen. Die dringend notwendige Renovierung des alten Gebäudes kann dagegen nicht ohne Geldmittel durchgeführt werden. Diese Probleme versucht Sinaida Dmitrijewna zu lösen, auch wenn es ihr manchmal aussichtslos erscheint.

Im Frühling 2006 wird „Samal” 10 Jahre alt. Trotzt aller Schwierigkeiten hat es neue Pläne und will zukünftig auch allgemein Kindern aus sozial schwachen Familien helfen.

Von Olga Jasischina und Sergej Schewzow

20/01/06

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