Bei einer längeren Zugfahrt gibt es ausreichend Zeit, sich Gedanken über seine Mitfahrer zu machen. Doch die Spekulationen müssen nicht immer ins Schwarze treffen, wie Kolumnistin Julia Siebert erfahren musste.

Mich ärgert, wenn andere Menschen vorschnell etwas interpretieren, obwohl sie nur einen winzigen Ausschnitt des Geschehens kennen und folglich ihre Trefferquote der Wahrheit nur sehr gering ausfallen kann. Zuletzt bin ich selbst in diese Falle getappt.

Es begab sich im Zug. Ich setze mich hin. Eine Frau, die links vom Gang mit ihrem Kind sitzt, sagt etwas zu dem Mann, der mir gegenüber sitzt. Ich verstehe es nicht, meine aber, Russisch oder eine artverwandte Sprache zu erkennen. Jedenfalls, der Mann reagiert darauf, indem er Sachen vom Platz neben mir wegräumt. Klarer Fall, wie ich als Deutungsfee diesen eindeutigen Sachverhalt zu erkennen meine: Die Frau sagt ihrem Mann, dass er ihre Sachen wegnehmen soll, damit sie mich nicht störten. Nein, nein, sage und gestikuliere ich, kein Problem, die Sachen können dort ruhig liegen bleiben. Weil ich zu müde bin, um zu lesen, mache ich mir aus lauter Langeweile Gedanken über meine drei Mitfahrer: Wieso sitzen Mutter und Tochter auf der einen Seite und sitzt der Mann bzw. Vater auf der anderen Seite vom Gang, obwohl direkt gegenüber von Mutter und Tochter zwei Plätze frei sind? Vielleicht braucht der Vater mal Ruhe und Abstand. Oder sie haben sich gestritten. Oder o je, vielleicht lehnt er das Kind ab. Weil es ein Mädchen ist oder ist es sogar nicht sein Kind, sondern das ihres Liebhabers, und er weiß oder ahnt es? Um mich nicht in Klatsch- und Tratschgeschichten zu verrennen, versuche ich es mit einem weniger skandalträchtigen Pfad: Vielleicht ist das in ihrer Kultur so, dass man nicht viel Nähe lebt oder sie zumindest nicht in der Öffenttlichkeit zeigt. Oder er ist gar nicht ihr Mann, sondern ihr Bruder. Oder ein Bekannter oder… Vielleicht vielleicht vielleicht…

Da ich mit dem Spekulieren nicht weiterkomme, stoppe ich zunächst mein Kopfkino und beobachte stattdessen die drei, auf eindeutige Indizien hoffend, die mir das geheimnisvolle Beziehungsgeflecht erschließen. Allein es tut sich nicht viel. Erst als wir Frankfurt ansteuern, kommt wieder Bewegung in die Kiste. Frau und Tochter ziehen ihren Mantel an. Der Mann seinen nicht. Das Spekulieren geht weiter: Frauen sind meist nervöser, Männer schnappen sich ihre Sachen erst, wenn der Zug hält. Aber es gibt auch so etwas wie ein Paarverhalten, wenn sich die Frau rüstet, rüstet auch der Mann mit, mindestens um dem Drängeln zu entgehen. Diese Frau drängelt nicht. Ob sie unterdrückt und eingeschüchtert ist? Oder einfach nur verständnisvoll? Der Zug hält, der Mann lümmelt immer noch in seinem Sitz, als würde er gar nicht aussteigen wollen.

Will er auch nicht. Die Frau verabschiedet sich. Auf Russisch, diesmal verstehe ich es: „Danke für alles! Auf Wiedersehen.“ Er antwortet folgerichtig: „Gern geschehen, keine Ursache.“ Wie man das eben so sagt, wenn man einer fremden Frau bei etwas geholfen hat, beispielsweise ihre vielen Sachen auf den verschiedenen Sitzen zu verteilen. Tja, da stand ich also mit meinem Drehbuch, das fast alle denkbaren Szenarien ausgearbeitet hat außer einer – der Realität. Wie meist, auf das Naheliegende und Einfache kommt man nicht. Unterhaltsamer waґs schon, mein Kopfkino. Drum behalte ich mir vor, künftig nicht komplett auf das voreilige Interpretieren zu verzichten, sondern hie und da die Realität mit ein paar Spekulationen aufzupeppen.

Julia Siebert

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