Warum leben Menschen in Deutschland auf der Straße? „In Deutschland muss niemand auf der Straße leben, es gibt doch soziale Absicherung!“ – diesen und ähnliche Sätze hört man immer wieder, womit man bei der Stigmatisierung von obdachlosen Menschen angekommen wäre. Auf der Straße zu leben ist eben – wenig überraschend – in den seltensten Fällen eine selbstgewählte Entscheidung, sondern zumeist eine Folge widriger soziokultureller und persönlicher Schicksale.

In der Soziologie werden Alltagstheorien auf bestimmte Bevölkerungsgruppen, zumeist Minderheiten, die von Normen „normaler Bürger“ abweichen, angewandt. So können auch Obdachlose zu den „stigmatisierten Menschen“ in der Gesellschaft zählen. Der integrierte Teil einer Bevölkerungsgruppe nimmt Obdachlosigkeit als einen von der Norm abweichenden Zustand wahr und orientiert sich bei der Beurteilung dieser Menschen an den Werten der modernen Leistungsgesellschaft. Nimmt man also an, dass im Kapitalismus das Gesetz des Stärkeren gelte, so sind Urteile, dass Obdachlose für ihren Zustand selbst verantwortlich seien, schnell gefällt.

Fehlende Perspektiven begleitet von Stigmata

Doch die Wahrheit ist komplexer, als das, was Pauschalurteile abbilden können. Zusammenfassend ist ein Stigma wissenschaftlich wie folgt zu charakterisieren: „Stigma ist der Sonderfall eines sozialen Vorurteils gegenüber bestimmten Personen, durch welchen diesen negative Eigenschaften zugeschrieben werden (…). Weiter wird im Fachjournal für Soziale Arbeit angeführt: „Stigmatisierungen knüpfen an Merkmale an, die als abweichend erkannt werden (…)“. Angewandt auf wohnungslose Menschen gibt es eine Reihe von Stigmatisierungen, die immer wieder in diesen Zusammenhängen genannt werden.

Wohnungslose seien demnach ungepflegt, arbeitsscheu, Alkoholiker, freiwillig wohnungslos, selber schuld und Straftäter. Ein zentraler Aspekt der Wahrnehmungsverzerrung ist, dass Wohnungslose „sichtbarer“ sind als andere Bevölkerungsgruppen – und dadurch auftretende Normabweichungen eher wahrgenommen werden. De facto sind Betroffene in seltenen Fällen wirklich arbeitsscheu, zumeist gehen dieser Haltung jahrelange Negativerfahrungen voraus, die durch Ablehnung und mangelhafte Perspektiven gekennzeichnet sind.

Leistungsgesellschaft vs. Realitätszustände

Der Soziologe Harald Ansen sieht drei Gruppen von Obdachlosen als zentral an: Menschen in kritischen Lebenssituationen (Trennung, Verlust der Arbeit, Schulden); Junge Menschen, die ungeregelt aus Jugendeinrichtungen entlassen werden; Menschen mit gebrochenen Biografien, die schon immer randständig gelebt haben (wie zum Beispiel Seeleute).
Dies alles sind kritische Umstände, die maximal zum Teil selbstverschuldet sein können. Angewandt auf das Beispiel Hamburg, ist ein zentraler Aspekt, weshalb Menschen in Deutschland immer noch auf der Straße leben müssen, in dem Mangel an Wohnungen zu suchen. In Hamburg gibt es schätzungsweise 11.000 Wohnungen zu wenig.

In Köln gehen Experten davon aus, das es 5.000-7.000 neue Wohnungen braucht, um der Wohnungsnot in Köln adäquat entgegenzutreten. Doch es ist nicht nur der Mangel an Wohnraum, sondern auch in erheblichem Maße die Bezahlbarkeit von staatlich subventionierten Wohnungen abgesehen. In Berlin hat eine Studie gezeigt, dass die Mieten trotz der Mietpreisbremse immer noch deutlich zu hoch sind und tendenziell weiter ansteigen. Zulässige Mieten lägen laut des Berliner Mietvereins bei rund 6,60 Euro pro Quadratmeter. Die Realität sieht anders aus. Die Wohnpreise sind im Schnitt 31 Prozent zu hoch.

Sozialer Abstieg dauert länger als in anderen Ländern

Welche Initiativen sind also zu ergreifen, um die Perspektiven von Obdachlosen zu verbessern? Psychologische Betreuung, Bürokratieabbau und Ausbau der sozialen Vereinshilfe sind zumindest theoretisch Ansätze, die zu einer Verbesserung beitragen können.

Bei aller berechtigten Sorge ist dennoch festzuhalten, dass der soziale Abstieg in Deutschland verhältnismäßig lange dauert. In anderen europäischen Ländern wie Ungarn erlischt das Anrecht auf Sozialhilfe bereits nach zwei Monaten, Staatsinitiativen sind gering, sodass Betroffene zumeist schon nach kurzer Zeit auf der Straße leben müssen. Doch Negativvergleiche sollten nicht die Messlatte festsetzen.

Kai Wichelmann

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