Die „Süddeutsche Zeitung“ zum Sinn, dem Bundestag das Recht zur Selbstauflösung zu geben:

„Der Streit der Juristen über echte und unechte Vertrauensfragen und die Zulässigkeit der Neuwahl ist vorüber. Ungeklärt bleibt aber ein Grundsatzproblem: Warum soll sich ein Parlament aus frei gewählten Abgeordneten nicht selbst auflösen können? Das liegt, noch immer, im Grunde an den „Lehren von Weimar“, die im Verfassungsrecht geachtet sind wie Heiligtümer, und in der Tat verdienen sie gebührenden Respekt. Als die Väter und Mütter des Grundgesetzes 1948 die Grundlagen der neuen Demokratie entwarfen, da stand ihnen noch leibhaftig vor Augen, worunter die erste deutsche Republik so sehr gelitten hatte: die Schwäche des Parlaments, das Geschrei der Extremisten bei den Volksabstimmungen über Fürstenenteignung und Kriegsreparationen, der anmaßende Dünkel des Militärs. Deswegen ist das Grundgesetz eine vorsichtige Verfassung. Aus ihr spricht Misstrauen: gegen das Volk, das vielleicht erneut verführbar wäre; gegen seine Vertreter, die sich, wie damals, ihrer Verantwortung unwürdig erweisen könnten. Deshalb darf der Souverän, anders als in Frankreich und Österreich, nicht direkt abstimmen, nicht einmal über die Europäische Verfassung. Deshalb ist die Bundeswehr der Politik auf das Strikteste untergeordnet. Und deshalb darf sich der Bundestag eigentlich nicht einfach selbst auflösen. Hinter diesen rechtlichen Schranken stand der beherrschende Wunsch nach Stabilität. Als Kanzler Gerhard Schröder das Volk über die Fortsetzung seiner Politik entscheiden lassen wollte, war das eigentlich in fast jedermanns Sinne. Doch das Grundgesetz zwang Politiker und Verfassungsrichter auf dem Weg zur Neuwahl zu unwürdigen Verrenkungen. Das Verbot der Selbstauflösung erwies sich nicht mehr als Schutz für die Demokratie, sondern sogar als Schaden. Die Republik ist längst gefestigt, die Lehren von Weimar verblassen. Sie haben in einer stabilen Demokratie nicht mehr dieselbe Gültigkeit wie damals, als sie ihre ersten Gehversuche machte. Gegen den Einsatz des Militärs im Inneren sprechen viele praktische Gründe, am wenigsten aber, dass sich die deutsche Demokratie vor ihren Generälen fürchten müsste. Gegen bundesweite Plebiszite spricht nur die Angst der Politiker, Macht zu verlieren. Und gegen ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments spricht gar nichts – erst recht nicht nach dem Karlsruher Urteil vom 25. August. Es wäre nur konsequent, dem Parlament dieses Recht zu geben; eine Sicherung gegen Missbrauch wäre ein hohes Stimmenquorum von zwei Dritteln oder auch vier Fünfteln der Abgeordneten. So hat es der frühere Verfassungsgerichtspräsident Ernst Benda vorgeschlagen, so würden die kleineren Parteien nicht zum Spielball der großen. Dieses Recht wäre sogar eine Stärkung des Parlaments – auch und gerade gegenüber dem Bundeskanzler. Wenn er das Abgeordnetenhaus auflösen darf, warum dürfen das nicht die Abgeordneten selbst?“

(„Süddeutsche Zeitung“, München, 27. August)

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