Dr. Viktor Krieger ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland in Nürnberg. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind Erforschung, Dokumentation und Vermittlung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen. Im Interview mit der DAZ spricht er über kultur- und nationalitäten Fehlern der UdSSR, das Verhältnis von Kasachstandeutschen zur Geschichte ihrer Vorfahren und ihre Rolle in den bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Kasachstan.
In der modernen Gesellschaft herrscht der feste Glaube, dass die Geschichte ständig neu geschrieben wird. Was hat das Ihrer Meinung nach zu bedeuten?
Die Umwertung der Geschichte ist ein unausweichlicher, ganz natürlicher Prozess der Fortentwicklung solcher Wissenschaft wie Geschichte. Im Laufe der Zeit stehen einem Historiker neue Quellen offen, man bekommt immer mehr Einzelheiten über diese oder jene historischen Ereignisse. Der soziale Wandel, die gesellschaftliche Modernisierung schreiten voran, neue Bevölkerungsgruppen oder nationale Bewegungen treten in Erscheinung, moralische und ethische Vorstellungen der Menschen ändern sich mit der Zeit – das alles und vieles mehr führt unweigerlich zur neuen Betrachtung historischer Vorgänge.
Nicht von ungefähr sagt man, dass die Geschichte die heutige Vorstellung über unsere Vergangenheit ist. Diese veränderte Sicht der Vergangenheit muss selbstverständlich methodisch solide, mit der Einhaltung der wissenschaftlichen Standards und Kriterien einhergehen. Ganz anders sieht es aus, wenn man die Geschichte für bestimmte politische Ziele instrumentalisiert, wenn man Quellen und Historiographie nur selektiv heranzieht, zur Untermauerung des bereits im Voraus festgelegten Bildes, wenn Zusammenhänge oder Schlussfolgerungen willkürlich, ohne belastbare Belege aufgestellt werden. Dann haben wir ein propagandistisches Machwerk, das mit einer objektiven Analyse der Vergangenheit nichts zu tun hat.
Die aktuelle Situation ist so, dass sich viele Kasachstandeutsche – nach den jüngsten viel beachteten politischen Ereignissen in Bezug auf Russland und die Ukraine – aus verschiedenen Gründen in Deutschland unwohl fühlen…
Was den von Russland angezettelten Krieg gegen die Ukraine angeht, so wirkt es sich in der Tat belastend auf die fast 2,5 Mio. Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft aus. Das betrifft vor allem die Erlebnisgeneration, solche Menschen, die noch in der ehem. UdSSR und ihren Nachfolgestaaten geboren und sozialisiert wurden, die zum guten Teil von der russischen Sprache und Kultur mitgeprägt sind. Gerade sie fühlen sich oft enttäuscht, ratlos, verunsichert, zerrissen, auch verraten und wütend…
Wie kann man Kasachstan-/Russlanddeutsche dazu bringen, sich an ihre Geschichte zu erinnern und sie nicht zu vergessen? Sie unterscheidet sich zum Beispiel auffallend von der relativ jungen Vergangenheit Deutschlands. Ich rede von Umsiedlung unter Katharina der Großen, sowjetischen Repressionen, Deportation, Gulag, Arbeitsarmee etc. Wie steht die heutige russischsprachige Jugend in Deutschland zur Geschichte ihrer Vorfahren?
In der Tat unterscheidet sich die Geschichte und somit auch die Erinnerungskultur der russlanddeutschen Bundesbürger stark von den dominierenden Bildern der Vergangenheit sowohl der bundesdeutschen als auch der russländischen bzw. kasachischen Gesellschaft. Die Besonderheit ihres historischen Weges ist den meisten Betroffenen bewusst. Allerdings fehlt es in Deutschland – und in noch größerer Weise in Russland und in Kasachstan – an solchen staatlich finanzierten Institutionen wie nationale Archive, Museen, Galerien, Bibliotheken, Theater, Dokumentationszentren, Forschungsinstitute, Gedenkstätten u.ä., die das kulturelle Erbe der deutschen Minderheit aufbewahren, der Identitäts- und Geschichtsbildung dienend und für die Mehrheitsbevölkerung aufklärend wirken würden.
Auch ist ihre Geschichte und Kultur im Schulunterricht und in der akademischen Ausbildung, in literarischen Werken oder in den Massenmedien der genannten Länder kaum präsent. In Kasachstan und Russland kommt noch das fehlende muttersprachliche Umfeld hinzu. Nach wie vor verbleiben in Russland wichtige Archivquellen zu der jüngsten Vergangenheit der Minorität verschlossen. Von der alteingesessenen Bevölkerung, v.a. in Deutschland und in Russland, werden ihre besonderen geschichtlichen Erfahrungen kaum wahrgenommen. Deshalb bleibt das historische und kulturelle Selbstbewusstsein der Russlanddeutschen diffus und unterentwickelt und führt bisweilen zu Missverständnissen in den Mehrheitsgesellschaften.
Welche kultur- und nationalpolitischen Fehler hat die UdSSR Ihrer Meinung nach gemacht? Was wurde falsch oder umgekehrt richtig gemacht? Wie lebten Volksdeutsche zu Sowjetzeiten?
Die Fehler sind allbekannt: Verbot der Rückkehr in ihre historischen Siedlungsgebiete nach dem Zweiten Weltkrieg, Absage an die Wiederherstellung der gesetzwidrig liquidierten Wolgarepublik, ausgebliebene Wiedergutmachungspolitik. Die dadurch zementierte Zerstreuung, kaum vorhandene Repräsentanz im Partei- und Staatsapparat, fehlende kulturelle Institutionen führten dazu, dass die einzigartige Kultur der „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ zerstört, die Nationalsprache in allen Bereichen des Lebens durch das Russische ersetzt, ihre Vergangenheit totgeschwiegen, die geistige und intellektuelle Entwicklung gehemmt und behindert wurde.
In der öffentlichen Wahrnehmung, in den Massenmedien traten – wenn schon –
die „Sowjetdeutschen“ überwiegend als Problem auf, etwa als Anhänger von religiösen Sekten oder als potenzielle Emigranten in den Feindstaat Westdeutschland. Die allgegenwärtige Verherrlichung des Sieges über Hitler-Deutschland, über die „Deutschen Faschisten“ – bei der gleichzeitigen Ausblendung der Vergangenheit der einheimischen Deutschen – speiste unterschwellig germanophobe Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung. Dieses vorwiegend negative Bild konnten wie auch immer oft auftretende Berichte über Arbeitserfolge von tüchtigen Melkerinnen, Mechanisatoren oder Kolchosvorsitzenden kaum zerstreuen.
Andererseits bemühte sich der Staat nach der Aufhebung des Kommandanturregimes 1955 um die Eingliederung der einstigen Sondersiedler in die Arbeits- und Sozialverhältnisse der Sowjetgesellschaft, was den ungehinderten Zugang zur Schul- und Fachausbildung, zur gleichen Entlohnung für geleistete Arbeit, zur Aufnahme in soziale Versicherungen u.ä. angeht. Seit den 1970er Jahren konnte man eine gewisse Normalisierung beobachten, sofern sich die Deutschen in ihrem individuellen oder gruppenspezifischen Verhalten von den herrschenden gesellschaftlichen Normen nicht abwichen und die russische Sprache und Kultur übernommen haben.
Heute ist Kasachstan einer der wichtigsten Handelspartner Deutschlands im postsowjetischen Raum. Welche weiteren Veränderungen im Sinne einer für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit sind Ihrer Meinung nach für uns alle zu erwarten? Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Selbstverwirklichung der Deutschen Kasachstans in den bilateralen Beziehungen zwischen Kasachstan und Deutschland?
Angesichts der aktuellen Entwicklungen, v.a. des russisch-ukrainischen Krieges und der Reaktion der westlichen Länder darauf, wird meines Erachtens die politische und wirtschaftliche Bedeutung Kasachstans für Deutschland und insgesamt für Europa ständig wachsen. Auch dem Faktor Deutsche Minderheit in Kasachstan kommt in den bilateralen Verhältnissen mehr Gewicht zu, man kann auch mehr Unterstützung aus Deutschland erwarten, keine Frage.
Wichtig ist dabei, dass sich die Minderheitenpolitik in Kasachstan den europäischen Standards nähert, dass die in der Verfassung deklarierten Garantien in Bezug auf Erlernen bzw. Unterricht in der Muttersprache verbindlich und rechtlich umgesetzt werden, dass relevante kulturelle und identitätsstiftende Einrichtungen der Minderheit entstehen. Es handelt sich etwa um die zweisprachigen Schulen und Gymnasien, um Kulturinstitute, Museen oder Dokumentationszentren, die das Bestehen der deutschen Muttersprache sichern sowie das geistige und materielle Erbe der deutschen Minderheit sammeln, aufbewahren und erforschen werden. Auch über eine gesicherte Vertretung der Minderheit in gesetzgeberischen Gremien könnte nachgedacht werden.